Wildnis
Er füllte Wasser in einen Topf, um Anna einen Tee zu machen. Sein Blick fiel auf das Gewehr, das neben der Tür zur Vorratskammer lag. Deswegen war er hierher gekommen! Er nahm es und betrat zeitgleich mit den Anderen den Salon.
„Setzen wir uns zu Anna“, sagte Michael gewichtig. „Greg, du nimmst den äußeren Sessel.“ Er selbst holte sich einen Stuhl und platzierte ihn vor dem Kamin.
Jan blieb hinter dem Sofa stehen. Er stellte beruhigt fest, dass Michael wütend war.
Anna schilderte den Vorfall. Sie erzählte in knappen, unbeteiligten Worten, während Greg vehement den Kopf schüttelte und sich gewaltsam zurückzuhalten schien.
„Sie lügt“, stieß Greg hervor, kaum dass Anna geendet hatte. „Ich werde euch erzählen, was sich wirklich ereignet hat.“ Er atmete geräuschvoll aus und entspannte sich demonstrativ. „Ich hatte einen Alptraum, in dem der Indianer ums Haus geschlichen ist. Also bin ich in der Küche aus dem Fenster gestiegen und in den Wald gerobbt und habe eine Runde gedreht. Ich habe einen Marder überrascht oder so etwas, da, wo ich die Hasen abgezogen habe. Sonst nichts. Ich bin zurück ins Haus, habe das Gewehr abgelegt und wollte noch einen Schluck trinken. Da habe ich Geräusche in der Vorratskammer gehört. Ich habe nicht groß nachgedacht, sondern die Tür aufgerissen und mich auf den Einbrecher gestürzt.“
Er machte ein betretenes Gesicht. „Natürlich hätte ich mir denken können, dass es jemand von uns ist. Aber hätten wir nicht Licht in der Küche gemacht und erst recht in der Kammer? Als ich die Tür öffnete, sah ich eine Gestalt, die eine Taschenlampe aufs Regal gerichtet hielt. Ich war überspannt von meiner Suche draußen. Meine Runde hat eine Ewigkeit gedauert, ständig habe ich damit gerechnet, angegriffen zu werden. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das an den Nerven reibt.“
Wie gut er log, staunte Jan.
„Der Einbrecher hat sich heftig gewehrt. Erst als ich ihn unter Kontrolle hatte, habe ich realisiert, dass es eine Frau war. Ich habe ihr irgendein Tuch vor den Mund gehalten, damit sie den Indianer nicht herbeiruft, und ihr erklärt, dass sie nicht schreien soll, wenn ich den Knebel lockere. Sie hat etwas in den Knebel gesagt und ich habe begriffen, dass es Anna war. Im selben Augenblick ist Jan mit dem Gewehr aufgetaucht. Ich hatte Angst, dass er mich erschießen würde, wenn er mich so mit Anna vorfindet. Ihr wisst ja, wie eifersüchtig er ist. Ich habe ihm zugerufen, dass er abhauen soll, und dabei das Tuch fest auf Annas Mund gehalten. Den Rest kennt ihr.“
„Wieso hast du gesagt, das sei eine Falle?“, fragte Michael.
„Ich hatte das Gefühl, ausgetrickst worden zu sein. Gerade als ich reinkomme, macht sich Anna im Dunklen in der Speisekammer zu schaffen. Und kaum, dass ich sie im Griff habe, kommt Jan herein. Ein paar Sekunden später und wir hätten den Irrtum selbst aufgeklärt. Als hätte er gelauscht, um mich im ungünstigsten Moment zu ertappen.“
„Auf mich wirkt es eher wie eine Verkettung unglücklicher Umstände“, sagte Michael. „Anna hat kein Licht gemacht, du warst überdreht, Jan hat die Geräusche von oben gehört. Wie gut, dass sich niemand wehgetan hat.“
„Wir müssen die Polizei rufen“, forderte Jan. Alle fuhren zu ihm herum, nur Anna reagierte nicht.
„Die Polizei?“ Laura schaute ungläubig. „Bist du übergeschnappt? Weißt du, was das bedeutet? Sie würden Greg und Anna mitnehmen.“
„Lass uns das in Ruhe überlegen“, sagte Michael. „Es steht Aussage gegen Aussage. Schwieriger noch: Die Aussagen decken sich, außer dass Anna Greg eine nicht näher erläuterte Absicht unterstellt. Wieso sollte er so über sie herfallen? Wegen des läppischen Streits vorgestern? Was für ein Unsinn! In jedem Fall wüsste ich nicht, wie die Polizei oder ein Gericht die Wahrheit herausfinden könnten.“
Greg strich sich zufrieden über seinen Bartflaum. Jan warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Und Jenny? Sie tat so, als sei sie noch nicht recht aufgewacht. Nein, von ihr war keine Unterstützung zu erwarten, sie würde Anna die Kränkungen nicht vergeben und nicht mit der Gruppe brechen wollen.
„Gib auf, Jan“, sagte Anna matt.
„Du nimmst deine Behauptung zurück?“, rief Greg.
„Sei ruhig, Greg“, ermahnte ihn Michael. „Anna, nimmst du von deiner Beschuldigung Abstand?“
„Nein. Ich bleibe bei der Wahrheit. Aber ich sehe ein, dass es nichts bringt, die Polizei zu rufen. Lasst uns schlafen
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