Wildrosengeheimnisse
ich die ganze Tragweite der Lage erfasst: Es ist nicht nur so, dass wir uns nicht mal eben auf eine Tasse Kaffee oder Tee sehen und uns über lange Phasen nur über das Telefon oder per E-Mail nahe sein können. Wenn einmal eine ernste Situation eintritt, so wie jetzt, braucht man zu lange, um zueinanderzukommen. Am liebsten würde ich sie daher gleich wieder mit nach Hause nehmen.
Doch ›nach Hause‹ – wo ist das denn? Ich meine natürlich den Bodensee damit. Doch ihr Zuhause ist hier, bei ihrem Mann, in diesem fremden Land.
»Wie geht es ihr?«, frage ich Steve auf der Fahrt.
»Du kennst deine Mutter. Sie sagt, sie fühlt sich pudelwohl und will unbedingt heute noch entlassen werden«, grinst Steve. »Aber die Ärzte wollen sie noch ein bisschen zur Beobachtung dabehalten. Sie hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt neulich abends. Auf einmal ist sie in der Küche umgekippt. Sie sagte zwar, das sei nur die Hitze vom Kochen, aber so heiß war es gar nicht in der Küche.«
Ich kann mir gut vorstellen, wie aufgeregt Steve war. Aber so, wie ich ihn mittlerweile kenne, weiß ich, dass er alles tun würde, um ihr zu helfen. Dennoch ist es schwer für mich, dass ich im Ernstfall nicht für meine Mutter da sein kann. Ich sehe Steve an, dass er weiß, wie ich empfinde, und mich deshalb auch sofort angerufen hat.
»Maja. Schön, dass du da bist. Wenn ich gewusst hätte, dass es so leicht ist, dich wieder zu uns zu locken, dann hätte ich schon viel früher einen Schwächeanfall vorgetäuscht«, begrüßt meine Mutter mich lachend. In ihrem quietschgelben Nachthemd und mit dem blauen Band im Haar sieht sie überhaupt nicht krank aus. Natürlich hat sie auch etwas Lippenstift aufgelegt.
»Steve, sei so lieb und hol mal bei einer der Schwestern eine Vase, ja?«, begrüßt sie ihren Schatz, der natürlich ein Rosensträußchen in der Hand hält, welches er auf dem Weg noch schnell gekauft hat.
Meine Mutter zieht mich, kaum dass Steve den Raum verlassen hat, zu sich herunter und flüstert mir zu: »Hol mich hier raus. Mir geht’s gut, wirklich. Steve macht sich viel zu viel Sorgen um mich, das ist doch gar nicht nötig. Nur, weil mir einmal schwarz vor Augen geworden ist.«
»Mama, ich hole dich hier raus, versprochen. Aber erst möchte ich ein paar Worte mit dem Doktor wechseln, ja?«
»Weißt du, diese Krankenschwestern, die sprechen so schnell und ich verstehe die meistens nicht. Und das Frühstück – eine einzige Katastrophe, sag ich dir. Ich kann dieses labbrige Weißbrot nicht mehr sehen, da kriegt man Verstopfung.«
Trotz aller widrigen Umstände muss ich lachen. Das ist meine Mutter, wie sie leibt und lebt.
Später setze ich mein Vorhaben in die Tat um und spreche mit dem behandelnden Arzt, der dabei missmutig ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch sortiert.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es ihm piepegal ist, ob meine Mutter nun noch länger im Krankenhaus bleibt oder nicht. Er weist mich lediglich auf ihre Krankheits-Vorgeschichte hin. Da meine Mutter einige Bypässe hat, wäre es sinnvoll, nach dem Schwächeanfall mehrere Untersuchungen mit ihr durchzuführen.
»Was soll das? Ein EKG kann auch der Hausarzt machen, dann kann ich wenigstens zu Hause schlafen«, antwortet meine Mutter, als ich ihr von dem Gespräch mit dem Arzt erzähle.
Ihre Entscheidung steht fest und so kann sie am selben Tag noch auf eigene Verantwortung mitsamt ihren Blumensträußchen mit uns nach Hause fahren.
Obwohl ich einigermaßen beruhigt bin, beschließe ich, noch ein paar Tage in Detroit zu bleiben, um meiner Mutter ein wenig zur Hand zu gehen. Das ist jedoch nicht nötig, denn Steve kümmert sich mehr als rührend um sie.
An meinem letzten Abend sitzen wir draußen im Garten und beobachten die Fyer-Flyers, eine Art Glühwürmchen, die jeden Abend in der Dunkelheit leuchten. Ich gehe hinein, um ein paar Gläser und etwas Limonade zu holen, und blicke aus dem Küchenfenster. Steve und meine Mutter sitzen zusammen im Garten, lachen, völlig zufrieden mit sich und der Welt. Er hält ihre Hand und streicht ihr mit der anderen liebevoll über das Haar. Diese Geste, die so viel Liebe ausstrahlt, rührt mich zu Tränen. Vor Kurzem habe ich einen schönen Spruch gelesen:
›Das große Glück der Liebe besteht darin, Ruhe in einem anderen Herzen zu finden.‹
Das ist es, was ich will.
*
»Kann ich dich wirklich allein lassen oder machst du wieder irgendwelchen Blödsinn?«, frage ich meine Mutter zum
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