Wildrosengeheimnisse
Ich nehme sie fest in den Arm und flüstere ihr leise ins Ohr: »Und ich bete für Thomas. Er ist stark, er wird es schaffen.«
Und daran glaube ich auch ganz fest.
*
Bei den vielen Gesprächen mit Frieda habe ich viel gelernt. Mit das Wichtigste davon war:
Das Leben geht immer weiter. Egal, wie hart und unerbittlich das Schicksal zuschlagen mag: Es beginnt jeden Morgen ein neuer Tag. Wir können immer wieder neuen Mut, neue Hoffnung schöpfen, neu anfangen.
In den nächsten Wochen weicht Emily nicht von Thomas’ Seite. Ich vermute, die Schwestern müssen sie nachts sogar aus dem Zimmer werfen, damit sie einmal nach Hause geht. Jeden Tag sitzt sie an seinem Bett, hält seine Hand, spricht mit ihm, liest ihm vor oder schmiedet Zukunftspläne, was sie alles Tolles machen werden, wenn er wieder gesund ist. Manchmal beschreibt sie ihm auch nur, was gerade draußen vor sich geht, wie das Wetter ist oder was sie beim Einkaufen erlebt hat. Jedenfalls erzählt sie mir das bei unseren täglichen Telefongesprächen. Als ich eines Abends nach meinem Spaziergang mit Jojo nach Hause komme, sehe ich eine kleine, zarte Gestalt auf der Treppe zu meiner Terrasse sitzen, die, komplett in Gedanken versunken, auf die Abendsonne blickt, die sich im Wasser spiegelt. Emily bemerkt mich erst, als ich direkt vor ihr stehe, und sieht mich kummervoll an. Ohne ein Wort zu sagen, nehme ich sie in die Arme und erschrecke, als ich bemerke, wie zerbrechlich sie geworden ist. Sie hat so viel durchgemacht in den letzten Wochen, kein Wunder, dass sie immer dünner wird.
»Komm erst mal rein«, sage ich und mache uns eine Riesenkanne Tee.
Um sie ein wenig abzulenken, plappere ich einfach drauflos und erzähle ein wenig vom Alltag im Café. Die BBP-Ladys waren heute wieder da und haben alles und jeden durchgehechelt. Die Nachbarin, die sich so selten die Haare färbt, so dass man den grauen Ansatz sehen kann, die Gymnastiklehrerin, die so arrogant tut und die anscheinend andauernd mit einem viel jüngeren Mann gesehen wird, weswegen sie vermutlich so viel Sport macht und seit Neuestem auf einmal eine bemerkenswert faltenfreie Stirn hat. Die Boutiquechefin, die sich ein neues Cabrio geleistet hat und auch noch zu einer Kreuzfahrt aufbrechen will, die Frau des Yachtclub-Präsidenten, die jetzt einsam und verlassen zu Hause herumheult, während ihr lieber Ehemann die junge Geliebte stolz überall herumführt. Und natürlich das Schicksal der bemitleidenswerten Isabella, die ganz offensichtlich furchtbar unter ihrem gewalttätigen Ehemann leiden musste.
»Nur gut, dass diese Ladys offenbar keine eigenen Sorgen haben«, fasse ich zusammen, während ich sie dazu dränge, ein besonders leckeres ›Überlinger Schokoküsschen‹ zu naschen.
»Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.« Mit diesem von Frieda heiß geliebten, wahren Spruch lege ich es auf ihren Teller und entlocke Emily doch tatsächlich ein Lächeln. »Bei denen scheint alles glattzugehen. Sie haben keine finanziellen Nöte, ihre Kinder sind aus dem Gröbsten raus und haben ordentliche Berufe oder studieren etwas Sinnvolles, die Männer gehen nicht fremd und die Cellulitis-Behandlung scheint ihre einzige Sorge zu sein.«
»Meinst du wirklich?«, fragt Emily ungläubig.
»So oft, wie sie über das Thema Botox und Schönheitsbehandlungen sprechen, haben die anscheinend schon ein Problem, nämlich das Älterwerden. Und so ganz der Treue ihrer Ehemänner sicher scheinen sie sich auch nicht zu sein, sonst würden sie nicht so oft über die flatterhaften Männer in einem gewissen Alter sprechen, die sich eine junge Geliebte zulegen.«
»Da hört man doch unterschwellig die Angst heraus«, meint Emily, während sie, ein zufriedenes »Hmmm, göttlich« ausstoßend, das Küsschen verdrückt. »Hast du noch eins davon?«
Ich freue mich, dass ihr Appetit offenbar wiederkehrt, und hole gleich einen ganzen Teller Gebäck.
»Außerdem glaube ich, dass da vielleicht auch ein wenig Neid mit im Spiel ist. Die Boutiquebesitzerin belohnt sich für sechs Tage Arbeit die Woche mit einem schicken Cabrio und einer Kreuzfahrt. Die Gymnastiklehrerin legt sich einen jungen Liebhaber zu und hat offenbar regelmäßig Sex. Und was haben die BBP-Ladys? Ihre Gymnastikstunde. Männer, die nach der Arbeit golfen, Tennis spielen, Fahrrad fahren. Ihre Kinder gehen ihre eigenen Wege und brauchen sie nicht mehr. Also was tun sie? Statt sich ein sinnvolles Hobby zu suchen oder hin und wieder mal für alte
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