Wildrosengeheimnisse
ihm«, jammert sie. »Aber man lässt mich nicht. Nur die Angehörigen dürfen rein.«
Ich fühle mich so hilflos.
»Komm mal her«, kann ich nur sagen und Emily in die Arme nehmen.
Obwohl auch mir die Tränen kommen, soll sie sich ruhig an meiner Schulter ausheulen, so lange sie möchte.
Als dann mit sorgenvollen und ängstlichen Gesichtern Thomas’ Eltern kommen, reden sie lange mit dem behandelnden Arzt. Gott sei Dank können sie Emily mit hinein zu ihrem Sohn nehmen. Wahrscheinlich würde sie sonst noch auf dem kargen Krankenhausflur durchdrehen.
Während die drei auf der Intensivstation sind, gehen Leon und ich in die Cafeteria.
Ganz selbstverständlich stellt er sich an und holt uns zwei Cappuccini.
»Möchtest du einen Schoko-Muffin?«, fragt er mich, als ich mich schon mal hinsetze. »Die magst du doch so gern.«
Aber ich kann nichts essen. Schweigend rühren wir in unseren Tassen. Seltsam, mir fällt auf, wie cremig der Schaum meines Cappuccinos ist. Wie kann ich jetzt an so etwas Banales denken?
Emilys Welt liegt gerade in Scherben und ich denke an Cappuccino-Schaum.
»Leon, was meinst du, hat Thomas eine Chance?«
Leon sieht mich traurig an. Auch ihn scheint das Schicksal seiner kleinen Schwester und ihres Freundes richtig mitzunehmen.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, das können zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal die Ärzte sagen.«
»Das ist alles so schrecklich. Emily war gerade so glücklich mit ihrer gemeinsamen Wohnung, ihrem Studium – und vor allem mit Thomas«, sinniere ich.
»Ja, endlich hatte sie einen Sinn in ihrem Leben. Vorher lebte sie nur so in den Tag hinein.«
Dann sieht Leon mir fest in die Augen:
»Sie hat eben gemerkt, dass das Leben so viel schöner ist zu zweit. Ich wünschte, ich hätte das auch schon vorher erkannt.«
Es scheint nicht mehr um Emily zu gehen, sondern um uns. Da mir das unbehaglich ist, frage ich Leon, ob er nicht ein wenig mit mir spazieren gehen möchte. Ohne ein Wort zu sagen, laufen wir wenig später nebeneinander durch den Park des Krankenhauses. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, die Blumen blühen, als ob nichts geschehen wäre. Und doch hat sich für Emily heute Morgen alles verändert. Und für manch anderen vielleicht auch. Wie viel Leid doch der eine oder andere auf seinen Schultern trägt, während er diese schönen Wege im Park geht. Wenn er sie denn gehen kann. Manch einer besucht einen Familienangehörigen oder einen anderen Menschen, der ihm nahesteht, und weiß nicht, ob dieser eine Überlebenschance hat. Das gilt nicht nur für die vielen Unfallopfer, sondern auch für alle Krebspatienten oder andere Patienten mit schlimmen Krankheiten.
»Maja, ich muss so oft an dich denken. Du fehlst mir«, unterbricht Leon meine stillen Gedanken. »Ich weiß, es ist jetzt kein guter Zeitpunkt, aber wollen wir nicht mal wieder zusammen essen gehen? Irgendwo am See …«
»Danke, Leon, aber ich glaube, ich muss jetzt in erster Linie für Emily da sein. Außerdem habe ich momentan noch recht viel Trubel mit dem Café, meiner Mutter und so weiter«, antworte ich ausweichend. »Aber wir werden uns sicher die nächste Zeit öfter begegnen. Dann würde ich mich freuen, wenn wir wieder einen Spaziergang machen würden oder zusammen einen Kaffee trinken, ja?«
Ich sehe Leon an, dass er mit dieser Antwort nicht zufrieden ist. Er verabschiedet sich und ich gehe wieder nach oben.
Dort treffe ich auf den Rest der Römfeld-Familie, Emilys Mutter Katharina, wie immer superschick gekleidet und bestens frisiert, sowie ihren anderen Bruder Robert mit seiner Freundin Anouk. Es ist schön zu sehen, wie diese Familie, jetzt, wo es darauf ankommt, zusammenhält.
Kurz darauf kommt Emily aus der Station. Sie ist noch blasser als sonst, wirkt aber ein wenig ruhiger als vorhin. Ich vermute, dass man ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hat.
»Emily, möchtest du nachher mit zu mir kommen?«, biete ich ihr an. Sie kann unmöglich allein bleiben in ihrem Zustand.
»Nein, ich bleibe bei Thomas. Aber danke, Maja, dass du hier bist.« In ihren Augen glitzern Tränen.
»Selbstverständlich holen wir Emily nachher zu uns auf das Weingut«, sagt Katharina bestimmt und hochnäsig wie immer. »Sie soll bei ihrer Familie sein. Das wird ihr guttun.«
Der Meinung bin ich zwar nicht unbedingt, doch ich möchte mich nicht einmischen.
»Emily, wenn etwas ist, du kannst mich anrufen oder zu mir kommen, hörst du? Bei Tag und Nacht. Ich bin immer für dich da.«
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