Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
eine Straße. Die Hände in die Hüften gestützt stand Rachel mitten darauf und trat gegen die Erde, als wollte sie ihre Echtheit prüfen. Dann wandte sie sich an ihre Schwester.
»Ja«, meinte sie, »das ist eindeutig eine Straße.«
»Was machen wir jetzt?« Elsie saß auf einem Baumstumpf und biss in einen knackigen Apfel.
»Wohin sie wohl führt?«, fragte Rachel, ohne sich um die Frage ihrer Schwester zu kümmern.
Also gab Elsie sich selbst die Antwort. »Wir sollten Cynthia und Michael suchen.«
»Stimmt.« Rachel riss sich aus ihren Gedanken. »Das sollten wir.«
Elsie hatte ein Weilchen gebraucht, um ihre Schwester in dem Waldlabyrinth aufzustöbern, hatte dann aber ohne größere Schwierigkeit zu der Straße zurückgefunden. Zur Orientierung hatte sie nämlich kleine Efeuranken um die Baumstämme gebunden, die seitlich des Kaninchenpfads lagen. Nachdem sie sich von der Existenz der Straße überzeugt hatten, tauchten die Schwestern wieder in den Schleier des Waldes ein und folgten Elsies Wegmarkierungen zurück ins Innere der Peripherie. Im Gehen riefen sie die Namen ihrer Jagdgefährten, und bald schon entdeckten sie die zwei, als sie gerade eine kleine Drahtfalle unter einem Häufchen Zweige auslegten.
»Was gibt’s?«, fragte Michael, als die Schwestern atemlos und mit roten Wangen ankamen.
»Eine Straße!«, platzte Elsie heraus.
»Elsie hat sie gefunden«, fügte Rachel hinzu. »Nicht weit von hier.«
Cynthia warf Michael einen schnellen Blick zu. »Das ist unmöglich«, sagte sie.
»Doch, ich schwöre«, sagte Elsie. »Sie ist wirklich da.«
»Wir haben jeden Quadratzentimeter von diesem gottverlassenen Ort abgegrast. Eine Straße haben wir nie gesehen.« Michael wickelte etwas Draht auf, während er sprach. Er hatte eigentlich nicht das Wort gottverlassen benutzt, sondern ein anderes, das Elsie erst einmal laut gehört hatte. Damals war ihrem Vater der Deckel eines gusseisernen Topfes auf den Fuß gefallen, und das Wort hatte durchs gesamte Haus gehallt.
»Willst du etwa sagen, meine Schwester lügt?«, fragte Rachel plötzlich verärgert über das Auftreten der älteren Kinder.
»Reg dich nicht gleich auf.« Michael lachte. »Ich meine ja nur, wenn da eine Straße wäre, hätten wir sie längst gefunden.«
»Vielleicht war es eine optische Täuschung«, meinte Cynthia. »Zu gewissen Tageszeiten kann der Wald komisch aussehen.«
»War es aber nicht«, sagte Rachel. »Ich hab sie gesehen. Mit meinen eigenen Augen.«
»Kommt mit«, sagte Elsie. »Kommt und seht sie euch an. Es ist echt nicht weit.«
Michael musterte die beiden Schwestern ruhig. Schließlich schüttelte er den Kopf und wickelte weiter seinen Draht auf. »Wisst ihr was, es wird langsam spät. Wir sollten wirklich zurück zum Haus gehen. Carol wartet auf uns. Es gibt bald Essen.«
»Im Ernst?« Rachel konnte es nicht fassen. »Ihr wollte sie euch nicht einfach mal ansehen?«
»Wir gehen morgen, versprochen. Gleich ganz früh. Dann können wir alle uns eure Straße mal genau anschauen.« Er legte einen Arm um Elsies Schultern und rieb ihr mit den Fingerknöcheln die Haare. »Außerdem stehen einige Kinder Schlange für die Puppen, die du bastelst. Du hast einiges zu tun.«
Elsie lächelte kurz. »Aber morgen gehen wir zu der Straße?«
»Versprochen«, sagte Michael.
»Eine Straße? Wie, eine asphaltierte Straße?«
Carol hielt mitten im Paffen inne und starrte in die Richtung der Mädchen, die Pfeife nur wenige Zentimeter vor den Lippen. Sie schwebte dort genauso unbewegt wie die Zeit in der Peripherie.
Zögerlich sah Elsie ihre Schwester an und nippte an ihrem Pfefferminztee. Zusammen mit den beiden Jägern hatten sie und Rachel Carol abgefangen, nachdem sie die schmutzigen Teller von den fünf Essenstischen abgeräumt und neben dem Spülbecken aufgestapelt hatten. Zwei Jungen lachten leise über einen Witz, während sie das Geschirr in dem Seifenwasser wuschen. Zwei kleinere Kinder waren ins Bett geschickt worden, die Älteren hatten sich im ganzen Haus verstreut, um die letzten Momente des Abends zu genießen.
»Nicht so richtig asphaltiert«, sagte Rachel. »Eher ein Kiesweg. Oder vielleicht waren da auch ein paar Steine. Sie sah aus, als gäbe es sie schon sehr lange.«
Die beiden Holzaugen wanderten hin und her, im Dämmerlicht der Kerzen leuchteten zwei hellblaue Iris auf. Elsie konnte sogar die Pinselstriche erkennen.
»Und dann war da noch so eine Art Säule, wie ein Meilenstein oder so was. Auf der
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