Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Stromleitungen der Stadt untergebracht war. Unauffällig mischte sich das grüne Kabel unter die Tausenden von andersfarbigen Strängen, die sich über den Fußboden schlängelten. Ein Wartungssteg aus Metall war an der Wand des runden Tunnels befestigt, und ihm folgten Prue und Curtis, ohne ihr grünes Kabel aus den Augen zu lassen.
Der Gang verlief schnurgerade. Irgendwann glaubte Curtis, Wasserrauschen über ihnen zu hören, aber genau war es nicht zu sagen. Eins war klar: Sie liefen unter dem Flussbett des Willamette entlang zum anderen Ufer, Richtung Osten. Sowohl Prue als auch Curtis stammten aus dem Norden von Portland. Der Südosten war fremdes Gelände für sie, weiter als bis zum Technikmuseum waren sie noch nie gekommen.
Beinahe hätten sie es verpasst. Zum Glück war Septimus vorausgelaufen und hatte den weiteren Verlauf des Kabels ausgekundschaftet. Als der Tunnel eine Kurve machte, trennte sich das grüne plötzlich von den anderen Kabeln und führte zu einer Leiter an der Mauer. Sie stiegen hinauf und erreichten einen weiteren, niedrigen Gang, der sich ihrem Gefühl nach kilometerweit hinzog. Endlich entdeckten sie einen schwachen Lichtschein in der Ferne: Es waren die spärlichen Sonnenstrahlen, die durch die Risse einer verwitterten alten Holztür fielen. Und als sie die Tür geöffnet hatten, standen sie unvermittelt im hellen Tageslicht und atmeten die klare, frische Luft der Außenwelt ein.
Leider war sie nicht ganz so idyllisch, ihre Rückkehr an die Erdoberfläche. Denn um sie herum erstreckte sich eine Müllhalde, so weit das Auge reichte. Hohe Abfallstapel türmten sich in allen Richtungen: rostige, ausgeschlachtete Autokarosserien, Kühlschränke mit gähnend offenen Türen, Radkappen und Flaschenverschlüsse. Ganze Meter ausrangierter alter Zeitschriften pflasterten den Boden, und halb zerkaute, einäugige Stofftiere lagen verwaist herum. Weiße Plastiktüten schwebten wie Quallen in der Luft, und der Boden war übersät von Pfützen mit schimmerndem Ölfilm. Es war kaum noch Schnee übrig, und der kleine Rest war schwarz vor Ruß.
»Reizender Ort, die Außenwelt«, bemerkte Septimus. »Freut ihr euch, zu Hause zu sein?« Prue warf ihm einen bösen Blick zu, woraufhin er sagte: »Quiek.«
Curtis sah seine beiden Gefährten wenig begeistert an. »Also, suchen wir diesen Kerl«, sagte er. »Und dann nichts wie weg hier.«
Es war wirklich kein Ort, an dem man sich allzu lange aufhalten wollte. Vor lauter Müll war der Horizont kaum zu sehen. Ganz eindeutig: Hierher kamen die Materialien zum Wiederaufbau der Maulwurfsstadt. Das grüne Kabel, das ihre Rettungsleine auf der gesamten Reise zur Oberfläche gewesen war, endete hier. Ein niedriger Pfosten ragte aus dem Boden, und daran war ein kleiner grauer Stromkasten festgeschraubt. Hier war das grüne Kabel angeschlossen.
»Tja, der könnte überall sein, was?«, stellte Prue fest.
»Stimmt. Irgendeine Idee, wo wir anfangen sollen?«, fragte Curtis.
»Die unmittelbare Nachbarschaft wäre ein guter Anfang«, schlug Prue vor.
Curtis nickte. »Super Plan.«
Und so machten sie sich auf die Suche nach dem verschollenen Baumeister mit den goldenen Haken anstelle von Händen, um ihn zu überreden, den mechanischen Jungen zu reparieren – und das alles auf Geheiß eines hellseherischen, sprechenden Baumes. Seit Prue zum ersten Mal nach Wildwald gekommen war, hatte sie gelernt, sich nicht zu genau mit den Einzelheiten zu befassen, sondern alles, was passierte, einfach erst mal hinzunehmen. Sonst, so dachte sie, würde die Absurdität der Vorfälle ihr womöglich noch irgendeinen wichtigen Hirnlappen verschmoren – den, der für die Vernunft zuständig war. Als Ganzes betrachtet wirkte ihre Suche zwar immer noch einigermaßen absurd, aber an sich war es ja nicht so seltsam, mitten auf einer Müllhalde nach jemandem zu suchen. Fand Prue zumindest.
»Herr Baumeister!«, rief Curtis, während er einen der Abfallberge erkletterte. Septimus schlüpfte durch Stapel von Metallteilen und quiekte aus Leibeskräften.
»Esben!«, brüllte Prue. Sie spähte durch die Scheiben eines ausgeweideten Ford Focus. »Esben Clampett!«
Er war nicht in den Schrottautos, auch nicht in dem gefährlich schwankenden Waschmaschinenturm. Er war nicht in der Badewanne mit den Löwenfüßen, die bis zum Rand mit zähem, schlammigem Wasser gefüllt war. Und er war nicht unter dem zum Dreieck gebogenen Wellblech, das nach Curtis ’ Einschätzung einen ziemlich schicken
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