Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
lassen. »Zu Unthank zurück bestimmt nicht. Aber wir haben keine Eltern. Wir haben keine Familien. Auf uns wartet da draußen nichts.«
Das kleinste Kind, ein Mädchen namens Annalisa, brach in Tränen aus.
Michael fuhr fort. »Nein, ich sage, wir bleiben hier. Sollen die magischen Mehlbergs ruhig gehen, wenn sie wollen, aber ich jedenfalls komme nicht mit.« Er sah seine Freundin und Jagdgefährtin Cynthia an. »Bist du dabei?«
Sie zögerte. »Ich weiß nicht, Michael«, sagte sie nach einer Weile mit gesenktem Blick. »Ich weiß es einfach nicht.«
Ehe Michael Cynthia noch Vorwürfe wegen ihrer mangelnden Rückendeckung machen konnte, trat Martha Song vor. Bisher hatte sie die Debatte still von hinten beobachtet. Nun räusperte sie sich. »Warum machen wir das hier nicht einfach dort draußen ?«
Alles verstummte, um sich Marthas Vorschlag anzuhören.
»Wer sagt denn, wir können so ein Haus, so eine Familie nicht auch in der Außenwelt haben? So unterschiedlich ist es doch gar nicht, oder? Ich meine, ihr kriegt Panik, weil ihr in die Schule gehen müsstet, aber hier machte es euch nichts aus, jeden Tag die Arbeiten zu erledigen, die euch zugeteilt werden. Meine Theorie dazu lautet: Das liegt daran, dass sie euch nicht von einem Erwachsenen zugeteilt werden. Weil wir hier alle gleich sind und ihr begreift, dass, wie soll man sagen, dass das Wohl des Hauses von jedem einzelnen Kind abhängt. Deshalb leuchtet es euch ein. Dann könnt ihr eben in der Außenwelt nicht rauchen oder trinken oder fluchen, na und? Ist doch egal. Für so was haben wir alle noch reichlich Zeit, wenn wir mal erwachsen sind. Und das ist nämlich noch so ein Punkt: Ist ja irgendwie ganz cool und magisch und so, dass die Zeit stillsteht, aber ich persönlich würde es eigentlich ganz gern weiter als bis neun schaffen. Ehrlich gesagt hatte ich mich darauf gefreut, ein Teenager zu sein.«
Ein zustimmendes Murmeln wurde laut.
»Ich schlage vor, wir hauen hier ab. Und zwar alle. Alle zusammen. Und dann suchen wir uns ein schönes leer stehendes Haus am Stadtrand und bauen das hier« – sie machte eine ausladende Geste mit dem Arm – »wieder auf. Aber dieses Mal haben wir dann auch Gummibärchen und Schokolade und Skateboards und den ganzen Krempel. Was meint ihr?«
Carl Rehnquist sprang auf die Füße und fing wie wild zu klatschen an, sodass sein Strickzeug auf den Boden fiel. Als ihm auffiel, dass außer ihm niemand so überschwänglich auf die Rede des Mädchens reagierte, errötete er und setzte sich wieder. »Ich finde, das sollten wir machen«, sagte er kleinlaut.
Aber Marthas Vorschlag war durchaus überzeugend. Die im Haus versammelten Unadoptierbaren sahen einander in einem neuen Licht, mit neuer Hoffnung. Was Martha da vorschlug – es schien wirklich möglich. Und es klang perfekt.
Carol, dessen Holzaugen über die Köpfe der Kinder hinwegblickten, konnte beinahe ihre Gedanken lesen, so greifbar war der Wunsch, diese Zwischenwelt zu verlassen und ein neues Zuhause aufzubauen. Er räusperte sich und sprach. »Also gut. Stimmen wir ab. Wie viele möchten hier weg und draußen noch mal neu anfangen?«
Auch wenn eine böse Frau ihm schmerzhaft das Augenlicht geraubt hatte, konnte Carol doch das Rascheln Dutzender Overalls hören, als beinahe alle Kinder die Hand hoben. Er konnte hören, wie die Kinder die Luft anhielten, überrascht von ihrer eigenen Fähigkeit, eine machtvolle Einigkeit zu schaffen. Und danach konnte er Lachen hören – fröhliches Lachen, ungläubiges Lachen –, das von den kleinsten Kindern ausging und nach und nach jeden im Raum ansteckte. Was Carol nicht hören, aber doch erahnen konnte, war die Traurigkeit, die sich auf Michaels Züge legte.
Er war die einzige Gegenstimme gewesen. Sein Arm war der einzige gewesen, der nicht in die Luft geschossen war. Er beobachtete die jubelnden Kinder, die einander auf den Rücken schlugen und sich gegenseitig die Hände abklatschten. Inmitten des Trubels schwieg er. Innerlich trauerte er.
Unthank hielt das fertige Stück hoch. Es leuchtete geheimnisvoll in seiner Hand, während die drei Zahnräder sich gleichmäßig um den glänzenden Kern drehten. Es gab ein schwaches Summen von sich, und zudem wurde es von einem Hauch von Luftverwirbelung umgeben. Seine Finger spürten die beständige Anziehung und Abstoßung der Magnete. Das Teil war wirklich von ungeheurer Schönheit. Seine Augen füllten sich mit Tränen der Erleichterung und Freude. Er schniefte etwas und
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