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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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viel Kontrolle wie ein Blatt, während es vom Baum fällt. Wir müssen nur folgen, wir müssen nur folgen.«
    Prue schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ein paar Tränen von der Wange. »Aber wenn ich nicht hergekommen wäre … oder … oder«, stammelte sie, »wenn meine Eltern nie eine Abmachung mit Alexandra getroffen hätten und ich nie auf die Welt gekommen wäre – dann wären wir jetzt nicht in dieser Lage! All diese lieben Menschen und Tiere würden jetzt nicht ihr Leben aufs Spiel setzen.«
    »Die Welt zu verwünschen ist ebenso sinnvoll, wie wenn man eine Knospe zum Blühen zwingen wollte«, erwiderte Iphigenia und tätschelte sanft Prues Hand. »Es ist besser, in der Gegenwart zu leben. So können wir vielleicht lernen, das Wesen unserer zerbrechlichen Beziehung zu unserer Umwelt zu verstehen.«
    Prue setzte sich gerade hin und versuchte, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Die Worte der Mystikerin waren einerseits tröstlich, gleichzeitig schien dahinter aber ein noch größeres Geheimnis zu stecken. »Und was wird deine Rolle bei all dem sein?«, fragte sie.

    »Ich werde zurückbleiben«, erklärte Iphigenia. »Mein Orden schreibt das vor. Ich werde meditieren, bis die Schlacht beendet ist. Es wird einen eindeutigen Sieger geben; der Wald wird es mir mitteilen. Falls die Gouverneurin sich durchsetzt und der Efeu entfesselt wird, dann werde ich einfach ein Teil des Waldes. Für mich ist das kein schreckliches Schicksal. Ich füge mich nur in das Unvermeidbare.«
    Prue blinzelte die Mystikerin an, die friedliche Ergebenheit in ihrem Gesicht verwirrte sie. Ihre ebenso vertrauenerweckende wie manchmal erschreckende Offenheit war gewöhnungsbedürftig.
    Unterdessen stand Brendan auf der großen Lichtung zwischen den Bäumen und wartete darauf, dass die beiden Flanken abzogen. Er musterte seine Truppe eindringlich; dann wandte er sich ab und kam im Laufschritt zu Prue an den Wohnwagen.
    »Es wird Zeit«, sagte er. »Ich brauche dich bei mir.«
    Prue nickte, schluckte die letzten Tränen hinunter und hüpfte vom Wagen. Sie warf einen letzten Blick auf Iphigenia, lächelte und ging dann zu den wartenden Soldaten.

    Etwas veranlasste die Gouverneurswitwe, innezuhalten, während sie ihr Pferd langsam durch den knöcheltiefen Efeu lenkte, der die uralte Ruine überzog. Ein Gedanke überfiel sie, wie eine milde, warme Brise an einem kalten Tag, die sich bereits auflöst, sobald sie angeweht kommt. Ein Verdacht. Ein Hauch von Unbehagen.

    Aber warum, dachte sie, in diesem Augenblick meines Sieges, diesem Moment der Erfüllung?
    Es war so einfach gewesen.
    Es hatte keinen Widerstand gegeben.
    Und doch hatte sie etwas gespürt. Tief in ihren Knochen. Vielleicht ein Flüstern in den Bäumen, ein leises Murmeln von Pflanze zu Pflanze. Als beabsichtige der Wald, sich gegen sie zu erheben.
    Sie lachte den Gedanken fort; selbst die Nordwaldmystiker mit all ihrer Macht konnten den Wald, dieses gesetzlose Universum des Grüns, nicht auf ihre Seite ziehen.
    Das Baby erwachte. Sie sah es an und machte ein besänftigendes Geräusch. Es lächelte und wischte sich mit zwei Fäustchen den Schlaf aus den Augen. Dann blinzelte es in die helle Sonne, die Sonne, die beinahe ihren höchsten Punkt am Himmel erklommen hatte.
    Genau in diesem Moment brach der Wald auf.

    Brendan gab das Kommando.
    »Mittlere Kolonne«, begann er.
    Prue stand neben ihm. Gemeinsam beobachteten sie über die Böschung hinweg die heranmarschierenden Kojotensoldaten, in deren Mitte die große, unerbittliche Gestalt der Gouverneurswitwe auf dem Pferd saß.
    In ihren Armen lag ein in Tücher gewickeltes Kind.
    Mein Bruder! Mein kleiner Bruder! Dieser Gedanke verdrängte
alle anderen aus Prues Kopf. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, seinen Namen herauszuschreien.
    »Zum Angriff«, beendete Brendan ruhig.
    Die vereinten Armeen von Räubern und Bauern, die Wildwald-Freischärler, durchbrachen die äußerste Baumreihe über dem zerstörten Zentrum der alten Stadt, und die unheimliche Stille des von Efeu überwucherten Platzes wurde jäh von ihren gellenden, leidenschaftlichen Stimmen zerrissen.

    Prue sah, wie sich Alexandras Pferd vor Überraschung aufbäumte, sodass es fast seine Reiterin abwarf – und schrie.
    Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. »MAC!«, brüllte sie. Ihr Beschützerinstinkt für ihren kleinen Bruder brach sich einfach Bahn.
    Die Angriffsspitze, die mittlere Kolonne der Wildwald-Freischärler, angeführt vom

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