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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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86.
    »Da wären wir«, stellte der Dachs außer Atem fest. »Rue Thurmond sechsundachtzig.«
    Prue kletterte aus der Rikscha. »Vielen, vielen Dank«, sagte sie, und der Fahrer nickte und fuhr weg.
    Sie stieg die Marmorstufen zur Tür hinauf und bewunderte kurz den Klopfer, der dort hing: ein Adlerkopf aus Messing mit einem schweren goldenen Ring im Schnabel. Dann ließ sie ihn etwas beklommen auf das Eichenholz der Tür fallen. Sie trat zurück und wartete ab. Niemand kam. Sie klopfte erneut. Doch immer noch ließ sich niemand blicken. Sie machte einen Schritt rückwärts und las das Schild über dem Eingang, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich vor Hausnummer 86 stand. Nach ein paar weiteren Klopfversuchen machte sie sich langsam Sorgen.

    Plötzlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Prue wollte schon eintreten, da knallte sie prompt wieder zu – nur um kurz darauf etwas weiter als vorher aufgezogen zu werden. Verwirrt spähte Prue durch den Spalt und rief: »Hallo?«
    Alles, was sie hörte, war verzweifeltes Flügelflattern. Sie konnte erkennen, dass zwei kleine, spatzenähnliche Vögel einigermaßen erfolglos versuchten, den Türknauf zu drehen.
    »Verzeihung! Verzeihung!«, zwitscherte der eine von beiden, während seine Kralle immer wieder von dem polierten Messing abrutschte.
    »Huch!«, rief Prue. »Moment, ich helfe euch!« Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf und ging hinein.
    »Danke!«, sagte der eine Vogel und flatterte vor Prue in der Luft. »Wir sind an diese Apparaturen der Zweibeiner einfach nicht gewöhnt.«
    »Du musst das Außenweltmädchen sein, McKeel«, meinte der andere. »Der Prinz erwartet dich.«
    Nachdem sie ihr mühelos die Jacke abgenommen und an einen Haken neben der Tür gehängt hatten, führten die beiden Prue über einen kurzen Flur in ein riesengroßes Wohnzimmer.

    Am anderen Ende des Zimmers prasselte unter dem geschnitzten hölzernen Sims des Kamins ein Feuer, dessen Schein wirbelnde Schatten an die hohe Decke zeichnete. Bis auf zwei den Flammen zugewandte Ohrensessel waren alle Möbel mit weißem Stoff abgedeckt. Die Wände waren von hohen Regalen gesäumt, in denen tausende von Buchrücken den Anschein eines bunten Wandteppichs erweckten. An einem gerahmten Porträt über dem Kamin war die weiße Stoffabdeckung etwas zur Seite gerutscht, sodass darauf ein Blauhäher in einer strengen Robe zu erkennen war. Prue empfand eine gewisse behagliche Melancholie.
    »Guten Abend«, ertönte eine alte Stimme von einem der Sessel. »Ich hoffe, dein Weg hierher war nicht gefährlich. Bitte, setz dich doch.«
    Hinter der Lehne tauchte ein gigantischer Flügel auf, dessen unzählige braune, weiße und graue Federn gespreizt waren, um auf den anderen Stuhl zu zeigen.
    Prue bedankte sich schüchtern und durchquerte den Raum. Die Wärme des Feuers war wunderbar wohlig und wurde von ihrer Jeans geradezu dankbar aufgesaugt, als sie sich setzte und in die Augen von Uhu Rex blickte.
    Aus dieser Nähe sah er sogar noch beeindruckender aus – die spitzen Federohren, die aus dem feinen Gefieder auf seinem Kopf ragten, und sein gefleckter Körper füllten die Polster des Sessels mit Leichtigkeit aus. Er trug eine weiche Samtweste, und zwischen den
beiden fedrigen Büscheln auf seinem Schopf saß eine Kappe mit einer Quaste. Seine knotigen Krallen ruhten auf einem gepolsterten Fußhocker, und seine stechenden gelben Augen musterten Prue eindringlich.
    »Ich muss mich für den Zustand der Räumlichkeiten entschuldigen«, sagte er nun. »Wir hatten kaum Zeit, uns hier häuslich einzurichten. Dringendere Angelegenheiten erforderten unsere Aufmerksamkeit. Aber ich sollte dir eine Erfrischung anbieten. Du musst von deiner Reise ganz ausgetrocknet sein. Tee oder Kaffee?«
    »Tee, sehr gern«, antwortete Prue. Sie hatte sich immer noch nicht ganz von ihrer Verblüffung erholt. »Ich meine, Kräutertee. Wenn Sie so was haben. Pfefferminz oder so.«
    »Minztee!«, rief der Uhu mit zur Seite gedrehtem Kopf. Ein plötzliches Flügelschlagen hinter ihnen ließ darauf schließen, dass der Auftrag entgegengenommen wurde. Nun wandte sich der Uhu wieder seinem Gast zu, und seine runden Augen bohrten sich in die von Prue. »Ein Mädchen. Ein Außenweltmädchen. Ziemlich faszinierend. Mir wurde berichtet … du bist einfach so hereinspaziert?«
    »Ja, Herr Uhu«, erwiderte Prue.
    »Ich habe eure Außenweltstadt schon oft überflogen, aber ich kann nicht behaupten, dass ich Lust verspürt hätte,

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