Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
ausgesprochen und verfolgte aufmerksam die täglichen Presseberichte über die parlamentarische Debatte. Das war ein Thema, das seinem Anspruch an eine technokratische Herrschaftsform gerecht wurde, die eigentlich imstande sein müsste, den Parteienstreit der Politik zu überwinden. Das Scheitern erschütterte ihn so sehr, dass seine Frau sich veranlasst sah, Bülow um seinen Beistand zu bitten:
In meiner Angst komme ich zu Ihnen. Gestern Abend musste ich den Kaiser in großer Aufregung und Betrübnis leider abreisen lassen, nach Metz und Saint-Privat. Diese unglückselige Kanalvorlage! Wenn Sonnabend [dem Tag der dritten und letzten Lesung] auch eine ungünstige Entscheidung fällt, weiß ich nicht, was passiert. Ach, könnten Sie dem Kaiser nicht einen etwas beruhigenden Brief schreiben? Es ist wirklich nötig! […] Ach, es ist ein schlimmer Sommer gewesen! Gott helfe weiter. 101
Wilhelm hätte theoretisch, nachdem die Vorlage auch bei der dritten Lesung durchfiel, den Landtag auflösen können. Aber selbst diese letzte Waffe im Arsenal des deutschen Monarchen hätte ihm nicht zum Erfolg verholfen, weil die einzige Folge ein mit Sicherheit deutlich liberalerer Landtag gewesen wäre. 102 Also wandte sich Wilhelm stattdessen gegen jene konservativen Verwaltungsbeamten (die »Kanalrebellen«), die sich in ihrer Funktion als Abgeordnete geweigert hatten, die Regierung bei dem Gesetzentwurf zu unterstützen. Mit seinen weitreichenden disziplinarischen Befugnissen, welche ihm nach der preußischen Verfassung zustanden, stellte er eine Reihe kompromittierter Beamter »zur Disposition« (d. h. sie waren ihres Amtes enthoben, ohne sie aus dem Staatsdienst zu entlassen). Eine derartige kollektive Strafmaßnahme gegenüber Verwaltungsbeamten hatte es in der preußischen Geschichte noch nie gegeben. 103 Der Widerstand der Konservativen gegen den Kanal wurde dadurch nicht gebrochen, und die Maßnahmen stießen auf allgemeine, empörte Ablehnung. So gut wie alle Parteien waren sich einig, dass der Monarch zwar befugt war, Staatsdiener ohne Angabe eines Grundes zu entlassen (Art. 87, Absatz 2), dass die Strafentlassung insbesondere dieser Staatsdiener jedoch verfassungswidrig sei, weil sie die parlamentarische Immunität verletze, die von der preußischen Verfassung garantiert sei (Art. 84, Absatz 1). Die Kanalvorlage scheiterte auch im Mai 1901 in einer abgeänderten Fassung; und die »Kanalvorlage«, die im Jahr 1904 schließlich in Kraft trat, war lediglich ein Abklatsch des ursprünglichen Projekts, weil sich der geplante Kanal nur vom Rhein über Dortmund bis nach Hannover erstreckte. Die vom Souverän so leidenschaftlich verfochtene, große Idee eines Wasserwegs, der die geographischen und kulturellen Pole des Reiches miteinander verband, musste ein für alle Mal aufgegeben werden. 104
Schlussfolgerung: Macht und Zwänge
Wilhelms Auseinandersetzungen mit den Ministerien unter Caprivi und Hohenlohe sowie seine gescheiterten Initiativen Ende der neunziger Jahre warfen ein Schlaglicht auf einige externe Zwänge, durch die der Monarch gebunden war. Die Errichtung eines »populären Absolutismus«, wie er Wilhelm vorschwebte, ließ sich schlichtweg nicht mit den komplexen und dynamischen Strukturen des deutschen Staatswesens vereinbaren. In diesem Sinne blieb das »persönliche Regiment« zwar ein lästiges Ärgernis für die Minister und ein Faktor bei Entscheidungsprozessen, aber dennoch, in Hans-Ulrich Wehlers Worten, ein »systemwidriges Experiment«. 105 Die Vorstöße Anfang und Mitte der neunziger Jahre deckten zugleich die Grenzen der eigenen Fähigkeit Wilhelms auf, seine Macht wirksam einzusetzen. Wilhelm war geradezu peinlich indiskret – ein verhängnisvoller Fehler in einem politischen System, in dem der Erfolg von Gesetzesinitiativen häufig von der sorgfältig dosierten Preisgabe von Informationen abhing. Seine extreme Abwehrhaltung und Grobheit, wenn er das Gefühl hatte, seine Autorität sei bedroht, standen einer kooperativen Beziehung mit allen Staatsdienern mit Ausnahme der geschicktesten Untergebenen im Wege. Es mangelte ihm an Objektivität, wie Bernhard von Bülow, gewiss nicht der schärfste Kritiker Wilhelms, in einem Brief an Eulenburg treffend bemerkte: »Es ist ein Unglück, dass der geliebte, hochbegabte Kaiser so leicht übertreibt, Seinem Temperament und bisweilen seiner Phantasie zu sehr die Zügel schießen lässt.« 106
Wilhelm erfasste rasch den Inhalt der Berichte,
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