Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Bieberstein auf ihre Seite zu ziehen. Beiden fehlte es auf dem Feld der Außenpolitik an Selbstvertrauen und Erfahrung. Zwei Tage nachdem Wilhelm dem russischen Botschafter Graf Pawel Schuwalow am 21. März in gutem Glauben versichert hatte, er habe auf jeden Fall die Absicht, den Vertrag zu erneuern, trafen sich die Bismarck-Gegner heimlich, um ihre Aktionen zu koordinieren. Am 27. März hatten sie den langjährigen, deutschen Botschafter in St. Petersburg, Hans Lothar von Schweinitz, überzeugt, einen renommierten Experten für deutsch-russische Beziehungen, der seinerseits wiederum Caprivi überredete, dass eine Nichterneuerung deshalb vorzuziehen sei, weil die derzeitigen vertraglichen Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Österreich und Russland widersprüchlich und somit unehrenhaft seien und langfristig nicht beibehalten werden könnten. Als Caprivi Wilhelm die Lage auseinandersetzte, entgegnete der Kaiser: »Wenn Schweinitz auch dagegen ist, dann geht es nicht. Es tut mir sehr Leid, aber vor allen Dingen will ich eine ehrliche Politik machen.« 10
Den Kaiser lenken
Es war einfach, den Kaiser zu einem solchen Kurswechsel zu bewegen, weil seine Anschauungen zur deutschen Politik nach vielen Seiten offen waren. Wilhelm ging nur selten absolut bindende Verpflichtungen ein. Er konnte sich für jede einzelne Option der Politik oder für alle bestehenden begeistern, selbst für Optionen, die das Auswärtige Amt bereits ausgeschlossen hatte. Im Juli 1890 war er etwa eng an der Ausarbeitung (wenn auch nicht am ursprünglichen Entwurf) des Helgoland-Sansibar-Vertrags mit Großbritannien beteiligt, nach dem die Deutschen das ostafrikanische Sansibar im Gegenzug für die kleine britische Besitzung Helgoland unmittelbar vor der deutschen Nordseeküste abtraten. Wilhelm forderte nachdrücklich, dass der Vertrag als Teil einer umfassenderen Annäherung an Großbritannien angesehen werden müsse, und schlug in den Gesprächen mit britischen Diplomaten einen auffallend freundlichen Ton an. 11
Um dieselbe Zeit legte er jedoch Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen mit dem britischen Erzrivalen Frankreich an den Tag. Bei einem Treffen mit dem französischen Botschafter Jules Gabriel Herbette im Dezember 1890 betonte der Kaiser, in einer verblüffenden Vorwegnahme des späteren Interviews für den Daily Telegraph , »keinen Haß gegen das Land zu haben, das man gemeinhin als den Erbfeind seines [d. h. des Kaisers] Reiches bezeichne«. 12 »Der Kaiser nutzt jede Gelegenheit, seinen guten Willen gegenüber Frankreich zu beweisen«, berichtete Herbette im folgenden Februar. 13 Eine Reihe versöhnlicher Gesten gipfelte in Wilhelms Entschluss, ohne vorherige Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt, seiner Mutter den Wunsch eines inoffiziellen Besuchs in Paris zu erfüllen. Der Besuch, von dem Wilhelm gehofft hatte, dass er gewissermaßen Tauwetter in den Beziehungen einleiten würde, hatte den gegenteiligen Effekt. 14 Als die chauvinistische französische Ligue des Patriotes entdeckte, dass Wilhelms Mutter in Versailles untergebracht worden war und St. Cloud einen Besuch abgestattet hatte, einem Ort, der 1870 von den Deutschen zerstört worden war, ertönte ein Aufschrei der Empörung. Sie musste unter Militäreskorte nach Calais und von dort nach England gebracht werden. Die Episode führte eindrücklich vor Augen, wie begrenzt die Effektivität einer dynastischen Diplomatie in einem Kontext war, in dem die allgemeinen Rahmenbedingungen für gute Beziehungen nicht gegeben waren. Sie war darüber hinaus eine Warnung an Minister und Beamte, dass sie sich auf unerwartete und möglicherweise unerwünschte, diplomatische Initiativen seitens des Monarchen gefasst machen mussten.
Im Herbst 1891 deuteten sich weitere eigenständige Initiativen an, als Wilhelm den Entschluss fasste, seine persönliche Beziehung zum Zaren zu intensivieren, um den Schaden wiedergutzumachen, den die deutsch-russischen Beziehungen durch die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages genommen hatten. Alexander III. hatte die Absicht, ohne den üblichen Besuch in der Hauptstadt durch deutsches Gebiet aus Dänemark auf die Krim zurückzukehren, und wollte so unmissverständlich seinen Unmut zeigen. Wilhelm schmiedete bereits Pläne, den Zaren in Danzig persönlich zu begrüßen. Der Zar und seine Familie mussten die Hafenstadt für die Überlandreise mit dem Zug anlaufen. Holstein konnte Eulenburg dazu bewegen, den Kaiser mit der Begründung
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