Wilhelm Storitz' Geheimnis
Jahren?…
– Mein lieber Heinrich, Du wirst vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, Dr. Roderich mitzuteilen – ich rechne bestimmt darauf – daß die Zeit eines Ingenieurs ein sehr kostbares Gut ist, mit dem man nicht verschwenderisch umgehen kann, und daß für den Fall, daß Dein Aufenthalt in Ragz unnötigerweise verlängert werden müßte, in den Bahnen des gesamten Sonnensystems leicht schwere Entgleisungen stattfinden könnten, wenn es so lange der Kontrolle Deiner gelehrten Berechnungen entzogen würde!
– Kurz gesagt, ich würde Schuld tragen an sämtlichen Erdbeben, Überschwemmungen, Springfluten und anderen Weltkatastrophen?
– Du hast mich verstanden… Man kann daher die Trauung nicht länger hinausschieben als…
– Als bis übermorgen oder vielleicht noch besser, bis heute abends, nicht wahr?… Beruhige Dich, lieber Markus, ich werde alle stichhaltigen Gründe vorbringen, wenn auch meine wissenschaftlichen Berechnungen nicht gerade von absoluter Notwendigkeit für den Fortbestand des Weltalls sind! Auf diese Weise kann ich dann doch noch einen Monat bei Dir und Deiner Frau zubringen!
– Das wäre herrlich!
– Aber sage mir, lieber Markus, was sind eigentlich Deine Pläne? Hast Du vielleicht die Absicht, Ragz gleich nach der Hochzeit zu verlassen?
– Das ist noch unbestimmt, erwiederte Markus, wir haben ja Zeit, diese Frage zu erörtern. Ich lebe jetzt nur für die Gegenwart. Was die Zukunft anbelangt, so schließt sie vorderhand mit meiner Hochzeit ab. Darüber hinaus existiert nichts für mich.
– Es gibt keine Vergangenheit, rief ich, es gibt keine Zukunft; es gibt allein eine Gegenwart! Über dieses Thema existiert ein italienischer Reim, den alle Liebenden den ewigen Sternen erzählen.«
Unser Gespräch wurde in dieser heiteren Weise fortgesetzt, bis es Essenszeit war. Nach Tisch, während wir unsere Zigarren rauchten, machten wir einen Spaziergang längs des Kais, welcher sich das linke Donauufer entlang hinzieht.
Ich konnte nicht verlangen, daß mir dieser erste, nächtliche Spaziergang ein richtiges Bild der Stadt liefern werde, tröstete mich aber mit dem Gedanken, daß ich am nächsten Morgen und die folgenden Tage Zeit genug finden würde, die Stadt genau zu besichtigen, wahrscheinlich in Gesellschaft des Hauptmanns Haralan und meines Bruders.
Selbstredend war der Gegenstand des Gespräches nicht geändert worden, es drehten sich unsere Reden wieder um Myra Roderich.
Ich weiß nicht mehr, welches Wort mir jene Mitteilung in Erinnerung brachte, die mir der Polizeileutnant am Vorabende meiner Abreise in Paris gemacht hatte. Nichts in den Äußerungen meines Bruders ließ erraten, daß sein Glück jemals, und wäre es noch so vorübergehend gewesen, getrübt worden sei. Aber wenn Markus auch jetzt keinen Rivalen zu fürchten brauchte, so hatte dieser Rivale nichtsdestoweniger existiert, nachdem sich der Sohn Otto Storitz’ um Myra Roderichs Hand beworben. Dies war nur sehr natürlich, nachdem das junge Mädchen schön war und außerdem in den glänzendsten Vermögensverhältnissen lebte.
Naturgemäß kamen mir jene Worte in den Sinn, die ich in dem Augenblick vernommen, als ich das Schiff verlassen wollte. Ich trachtete mir einzureden, daß ich das Opfer meiner Einbildung sei. Aber angenommen, sie seien wirklich ausgesprochen worden – welche Folgerungen konnte ich daraus ziehen, nachdem ich nicht wußte, wem sie zuzuschreiben waren? Am liebsten hätte ich sie dem unsympathischen Deutschen aufgebürdet, welcher sich in Budapest eingeschifft hatte. Aber diese Idee mußte ich fallen lassen, da der Betreffende das Schiff bereits in Vukovár verlassen hatte. So blieb mir nur die eine Möglichkeit übrig, den Vorfall für einen unpassenden Scherz anzunehmen.
Ohne meinem Bruder davon Mitteilung zu machen, hielt ich es für meine Pflicht, ihm mit wenigen Worten anzudeuten, was ich kürzlich in bezug auf Wilhelm Storitz erfahren hatte.
Markus antwortete zunächst nur durch eine sehr ausdrucksvolle, verächtliche Handbewegung, dann sagte er:
»Ja, Haralan hat mir von dem Menschen erzählt. Er ist, wie ich glaube, der einzige Sohn des Gelehrten Otto Storitz, der in Deutschland im Rufe eines Zauberers stand, ganz ungerechtfertigerweise übrigens, denn er hatte sich tiefe Kenntnisse in den Naturwissenschaften erworben; außerdem dankt man ihm wichtige Entdeckungen in der Physik und Chemie. Aber die Bewerbung seines Sohnes wurde abgewiesen.
– Noch bevor die Deinige
Weitere Kostenlose Bücher