Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
bedrohten, sie hatten mich aus meinem halben Schlummer aufgeschreckt – ich hatte sie soeben wieder vernommen!!…
IV.
    Der Morgen war angebrochen – der große Tag meines offiziellen Besuches bei der Familie Roderich.
    Die Wohnung des Doktors liegt am Ende des Batthyány-Kais, dort, wo er den Tököly-Wall schneidet, der – unter verschiedenen Namen – die Stadt im Kreise einschließt. Es ist ein modernes Gebäude, das im Innern eine ebenso reiche wie vornehme Ausschmückung aufweist und mit jenem gediegenen Geschmack möbliert ist, welcher auf ein seines, künstlerisches Empfinden schließen läßt.
    Durch das große Haustor, neben dem sich ein kleinerer Eingang befindet, gelangt man in den gepflasterten Hof, der sich in einem großen, von Ulmen, Akazien, Kastanienbäumen und Buchen umsäumten Garten fortsetzt; die mächtigen Baumwipfel überragen die hohen Einfassungsmauern. Gegenüber den zwei Eingangstüren befinden sich die Nebengebäude, an deren Mauern sich Aristolochia und wilder Wein emporranken und die durch einen Glasgang mit färbigen Scheiben mit dem Haupttrakt verbunden sind. Dieser Verbindungsgang mündet schließlich an der Basis eines runden, ungefähr sechzig Fuß hohen Turmes, in welchem sich die Treppe hinaufwindet.
     

    Auf einer Staffelei sah und bewunderte ich das Porträt Fräulein Myras. (S. 51.)
     
    Die Vorderfront des Hauses schmückt eine Galerie mit Glasfenstern, auf die sich die mit schönen alten Stickereien drapierten Türen öffnen, die ins Arbeitszimmer des Arztes, in die Empfangsräume und in den Speisesaal führen. Die sechs Fenster der Hauptfront sind nach dem Batthyány-Kai gerichtet, durch die übrigen blickt man auf den Tököly-Wall.
    Das zweite Stockwerk zeigt dieselbe Zimmereinteilung wie das erste. Über dem großen Salon und dem Speisesaal liegen die Zimmer von Herrn und Frau Roderich, den zweiten Stock bewohnt Hauptmann Haralan; über dem Arbeitszimmer des Doktors sind das Schlaf-und Toilettezimmer von Fräulein Myra gelegen.
    Ich kannte das Haus, noch ehe mein Faß seine Schwelle betreten. Während unseres Gespräches am vorhergehenden Abend hatte es Markus in allen Einzelheiten beschrieben, ohne das Geringste zu vergessen; auch der originellen Treppe hatte er Erwähnung getan, die von einem Aussichtsturm mit rundlaufender Galerie überragt ist, von der aus man einen herrlichen Ausblick über die ganze Stadt und den Donaustrom genießt. Ich wußte sogar aufs allergenaueste den Lieblingsplatz Fräulein Myras bei Tisch oder im großen Salon anzugeben; wußte, welche Bank im verborgensten Teile des Gartens sie mit Vorliebe wählte; sie stand im Schatten eines prachtvollen Kastanienbaumes.
    Gegen ein Uhr nachmittags wurden wir, Markus und ich, in der geräumigen Glasgalerie empfangen, die an der Vorderfront des Hauptgebäudes vorspringt. In der Mitte stand eine prachtvolle, aus Kupfer gearbeitete Jardiniere, in welcher Frühlingsblumen ihre Schönheit entfalteten. Die Ecken schmückten grüne Sträucher der Tropenzone: Palmen, Drazänen und Araukarien. An den Wänden hingen mehrere Gemälde der ungarischen und holländischen Schule, die Markus sehr lobte.
    Auf einer Staffelei sah und bewunderte ich das Porträt Fräulein Myras, ein Kunstwerk ersten Ranges, wohl würdig des Namens, mit dem es gezeichnet war und der mir der liebste auf Erden ist.
    Dr. Roderich hatte das fünfzigste Lebensjahr erreicht, aber man konnte ihm seine Jahre nicht ansehen. Er war sehr groß und hielt sich sehr gerade, seine dichten Haare waren leicht ergraut; seine Gesichtsfarbe verriet eine unerschütterliche Gesundheit, eine kräftige Konstitution, an der jede Krankheit machtlos abprallen mußte. Man erkannte in ihm auf den ersten Blick den echten magyarischen Typus in seiner ursprünglichen Reinheit: das lebhafte, scharfe Auge, die edle Haltung, den entschiedenen Gang; über sein ganzes Wesen lag ein natürlicher Stolz gebreitet, der aber durch den lächelnden Gesichtsausdruck gemildert war. Während ich ihm vorgestellt wurde, fühlte ich an dem warmen Druck seiner Hand, daß ich dem besten Menschen gegenüber stand.
    Frau Roderich war fünfundvierzig Jahre alt, ihr Antlitz zeigte noch deutliche Spuren einstiger, großer Schönheit, regelmäßige Züge, tiefblaue Augen und prachtvolle Haare, die stellenweise weiße Fäden aufwiesen, einen sein gezeichneten Mund, eine schlanke, elegante Gestalt.
    Markus’ Schilderung war richtig. Sie machte auch auf mich den Eindruck einer vortrefflichen

Weitere Kostenlose Bücher