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Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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regungslos, unempfindlich, Dr. Roderichs Kunst erwies sich als machtlos. Aber sie atmete, sie lebte. Ich fragte mich immer wieder, wie es möglich, daß sie all diese Schicksalsschläge ausgehalten habe, daß sie der letzten furchtbaren Aufregung nicht erlegen sei.
    Mehrere Kollegen des Doktors wurden berufen; sie umstanden das Bett, in dem Myra bewegungslos ausgestreckt lag, mit geschlossenen Augen und wachsbleichen Wangen; die Brust hob und senkte sich nach den unregelmäßigen Schlägen des Herzens, ihr Atem war ein bloßer Hauch, ein Hauch, der in jedem Augenblicke zu erlöschen schien.
    Markus hielt ihre Hände in den seinen. Er weinte. Er flehte sie an, er rief unausgesetzt:
    »Myra… liebe Myra!…«
    Mit tränenerstickter Stimme wiederholte auch Frau Roderich umsonst:
    »Myra… mein Kind,… Ich bin da… bei Dir… Deine Mutter…«
    Das junge Mädchen schlug die Augen nicht auf, wahrscheinlich hatte sie die Worte gar nicht vernommen.
    Die Ärzte hatten schließlich die stärksten Mittel versucht und es schien, als würde die Kranke zur Besinnung kommen…. Ihre Lippen flüsterten unzusammenhängende Worte, deren Sinn unmöglich zu erfassen war, ihre Finger bewegten sich in Markus’ Händen und ihre Augen öffneten sich ein wenig…. Aber welch leerer Blick kam aus diesen halboffenen Lidern! Ein Blick, dem der Verstand fehlte!…
    Markus begriff es nur zu schnell. Er taumelte zurück und schrie:
    »Sie ist wahnsinnig geworden…. Wahnsinnig!…«
    Ich stürzte auf ihn zu und hielt ihn mit Hilfe des Hauptmanns Haralan aufrecht und fragte mich, angstvoll, ob er nicht auch den Verstand verlieren werde!
    Wir brachten ihn in ein anderes Zimmer und überließen es den Ärzten, diese Krise zu bekämpfen, deren Ausgang ein gar trauriger sein konnte.
    Was mochte das Ende dieses Dramas sein? Konnte man hoffen, daß Myra mit der Zeit ihre Verstandeskräfte wiedergewinnen werde, daß durch sorgsame Pflege die Verirrungen ihres Geistes bezwungen werden würden, daß der Wahnsinn nur eine vorübergehende Erscheinung sein werde?
    Als Hauptmann Haralan mit mir allein war, sagte er:
    »Wir müssen ein Ende machen….«
    Ein Ende machen?… Wie meinte er das? Daß Wilhelm Storitz in Ragz und der Urheber dieser Ruchlosigkeiten war, daran zweifelten wir nicht. Aber wo konnten wir ihn packen, dieses ungreifbare Wesen war ja nicht zu fassen.
    Und welchen Eindruck machten diese neuerlichen Vorgänge auf die Stadt? Ob sie eine natürliche Erklärung derselben überhaupt annahm? Wir waren hier nicht in Frankreich, wo ohne Zweifel diese »Wunder« ins Lächerliche gezogen und in Liedern verspottet worden wären. In diesem Lande ging es anders zu. Ich hatte schon Gelegenheit zu bemerken, daß der Ungar eine angeborene Vorliebe zum Wunderbaren habe und bei dem ungebildeten Volke ist der Aberglaube unmöglich auszurotten. Für die gebildeten Klassen konnten diese Vorfälle nur auf eine unbekannte chemische oder physikalische Erfindung zurückzuführen sein. Aber wenig erleuchtete Köpfe suchen sich alles durch die Hilfe des bösen Geistes zu erklären und wahrscheinlich wurde Wilhelm Storitz als der personifizierte Teufel angesehen.
    Es war wohl nicht daran zu denken, der Öffentlichkeit den wahren Sachverhalt länger vorzuenthalten, die Beziehungen des landesverwiesenen Wilhelm Storitz zur Familie Roderich mußten klargelegt werden. Was wir bisher geheim gehalten hatten vor aller Welt, durfte nach dem in der Kirche gegebenen Ärgernis nicht mehr verschwiegen werden.
    Am nächsten Tage war die ganze Stadt in Aufruhr. Man verglich die Vorkommnisse im Hause des Doktors mit denen in der Kathedrale. Die kaum hergestellte Ruhe in der Stadt wich einer neuen Erregung; das Band aber, das diese verschiedenen Ereignisse verknüpfte, war endlich gefunden; in allen Häusern, in allen Familien weckte der Name Wilhelm Storitz’ die Vorstellung an ein übernatürliches Wesen, das zwischen den stummen Mauern und hinter den geschlossenen Fenstern des Hauses am Tököly-Wall ein geheimnisvolles Dasein führte.
    Es wird daher niemanden in Erstaunen setzen, daß nach der Verbreitung dieser Neuigkeit die Bevölkerung zu dem Hause am Tököly-Wall eilte, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben. So hatte sich auch die Menge auf den Kirchhof in Spremberg gedrängt. Aber dort hatten die Zeitgenossen des Gelehrten nur ein Wunder erhofft, sie waren von keinerlei Rachegefühlen beseelt. Hier jedoch war ein Ausbruch des Hasses zu befürchten; der Rachedurst,

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