Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Der Geisteszustand unserer armen Myra besserte sich in keiner Weise. Sie erkannte noch immer niemanden aus ihrer Umgebung und blieb gleich bewußtlos und gleichgültig gegen die aufopferndste Pflege. Die Ärzte wagten nicht mehr, der leisesten Hoffnung Raum zu geben.
    Aber trotz der großen Schwäche schien ihr Leben keineswegs bedroht. Nur lag sie immer bewegungslos und bleich wie eine Tote da. Versuchte man sie aufzurichten, begann sie zu schluchzen, heftiger Schrecken kam in ihren Zügen zum Ausdruck, sie rang die Hände und sinnlose Reden kamen über ihre Lippen. Kam ihr da die Erinnerung wieder? Erlebte ihr armer, verwirrter Geist die Schreckensszenen des Verlobungsabends, der Kathedrale wieder? Hörte sie abermals die gegen Markus und sich geschleuderten Drohungen? Es wäre ein gutes Zeichen gewesen, dann hätte ihr Gedächtnis die Vergangenheit behalten.
    Man kann sich die traurige Existenz der Familie Roderich leicht vorstellen. Mein Bruder verließ das Haus nicht mehr. Er blieb bei Myra mit dem Doktor und Frau Roderich, flößte der Unglücklichen selbst die geringe Nahrung ein, die sie zu sich nahm und forschte unausgesetzt, ob aus ihren Blicken kein Aufleuchten die wiederkehrende Vernunft anzeige.
    Am Nachmittage des 16. Juni irrte ich ziellos allein in den Straßen der Stadt herum, dann folgte ich einer plötzlichen Eingebung und richtete meine Schritte nach dem rechten Donauufer. Ich hatte schon lange diesen kleinen Ausflug geplant, nur die Umstände hatten mich bisher von der Ausübung dieses Vorhabens abgehalten. Ich eilte also der Brücke zu, durchquerte die Svendor-Insel und befand mich auf serbischem Boden.
    Mein Spaziergang dehnte sich weiter aus, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Die Uhren hatten soeben halbacht geschlagen, als ich wieder an der Brücke anlangte, nachdem ich in einem serbischen Wirtshaus, das in der Nähe des Ufers stand, einen Imbiß eingenommen. Ich weiß nicht, welcher Eingebung ich folgte – anstatt gleich heimzukehren, überschritt ich nur die erste Hälfte der Brücke und ging langsam die große Mittelallee der Svendor-Insel entlang.
    Ich hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als ich Herrn Stepark bemerkte. Er war allein, sprach mich an und natürlich kam alsobald dasjenige Thema an die Reihe, das uns beide unaufhörlich beschäftigte.
    Unser Spaziergang hatte ungefähr zwanzig Minuten gedauert, als wir das Nordende der Insel erreichten. Es war langsam Nacht geworden und dunkle Schatten lagen unter den Bäumen und auf den verlassenen Alleen. Die Schweizerhäuschen waren geschlossen und kein Mensch war weit und breit zu sehen.
    Es wurde spät und wir mußten an die Heimkehr denken; plötzlich drangen Stimmen an unser Ohr.
    Ich blieb augenblicklich stehen und faßte Herrn Stepark am Arm, um ihn zurückzuhalten, beugte mich dicht zu seinem Ohre und flüsterte so leise, daß nur er es vernehmen konnte:
    »Hören Sie!… Man spricht… und diese Stimme… ist Wilhelm Storitz’ Stimme.
     

    Nach einer Stunde blieben nur noch die vier Mauern stehen. (S. 174.)
     
    – Wilhelm Storitz’ Stimme? antwortete der Polizeichef ebenso leise.
    – Ja.
    – Er hat uns nicht bemerkt.
    – Nein, denn die Nacht ist uns günstig und macht auch uns unsichtbar.«
    Und die Stimme ließ sich noch immer, wenn auch undeutlich, vernehmen; eigentlich die »Stimmen«, denn es sprachen zwei Personen miteinander.
    »Er ist nicht allein, flüsterte Herr Stepark.
    – Nein… Wahrscheinlich ist der andere sein Diener.«
    Herr Stepark zog mich noch tiefer unter den Schutz der Bäume und ließ sich auf die Erde nieder. Vielleicht half uns die Dunkelheit, den Sprechenden so nahe zu kommen, daß wir ihr Gespräch verstehen konnten, ohne gesehen zu werden.
    Bald waren wir höchstens zehn Schritte von dem Orte entfernt, wo Wilhelm Storitz stand. Natürlich konnten wir niemanden erblicken, aber wir waren darauf ja vorbereitet und es verursachte uns keine Enttäuschung.
    Noch niemals hatte sich uns eine ähnliche günstige Gelegenheit geboten. Seit dem Brande wußten wir zum ersten Mal, wo sich unser Feind aufhielt und vielleicht gelang es uns, seine Pläne zu erfahren, möglicherweise konnten wir uns sogar seiner Person versichern.

    Er ahnte nicht, daß wir ihm so nahe waren und seine Worte belauschten. Wir lagen unter den Zweigen versteckt, wagten kaum zu atmen und vernahmen mit unsäglicher neuerlicher Aufregung Rede und Gegenrede, die mehr oder weniger deutlich zu uns drang, je nachdem sich

Weitere Kostenlose Bücher