Wilhelm Storitz' Geheimnis
vielmehr, daß er niemals Ragz verlassen habe.
Wieder vergingen zwei Tage, ohne daß in Myras Zustand ein Wechsel zur Besserung eingetreten wäre. Mein Bruder schien mir etwas gefaßter. Ich wartete auf eine Gelegenheit, mit dem Doktor über mein Projekt, die Abreise der Familie betreffend, zu sprechen. Ich hoffte ihn dafür zu gewinnen.
Der 14. Juni verlief weniger ruhig als die vorhergehenden Tage. Die Autorität fühlte diesmal ihre Ohnmacht der im höchsten Grade erregten Bevölkerung gegenüber.
Als ich gegen 11 Uhr auf dem Batthyány-Kai spazieren ging, trafen folgende Rufe mein Ohr:
»Er ist da!… Er ist da!…«
Wer mit diesem »er« gemeint war, war nicht schwer zu erraten, und als ich einige Passanten um Auskunft bat, antwortete man mir:
»Es steigt Rauch aus dem Kamin seines Hauses.
– Man hat sein Gesicht hinter den Vorhängen der Aussichtswarte gesehen«, rief ein anderer.
Ob diesem Gerede Glauben zu schenken war? Jedenfalls richtete ich meine Schritte nach dem Tököly-Wall.
Sollte Wilhelm Storitz tatsächlich so unvorsichtig gewesen sein, sich zu zeigen? Er mußte wissen, welches Schicksal ihn erwartete, sobald man Hand an ihn legte. Und er sollte sich ohne Not in diese Gefahr begeben, sich am Fenster seines Hauses gezeigt haben?
Ob das Gerücht wahr oder falsch war, es zeigte sich die Wirkung. Tausende von Personen, welche die Abteilung der Polizeileute zurückzudrängen suchte, umringten das Haus, als ich ankam. Und immer noch strömten Männer und Frauen herzu, alle in hochgradiger Aufregung und wilde Schreie ausstoßend.
Alle Argumente erwiesen sich machtlos der unvernünftigen, aber unausrottbaren Überzeugung gegenüber, daß er da sei, » er «, und mit ihm vielleicht die ganze Bande unsichtbarer Mithelfer. Die Polizei war machtlos der zügellosen Menge gegenüber, welche das Haus Wilhelm Storitz’ so von allen Seiten belagerte, daß dieser, falls er sich wirklich drinnen befand, unmöglich entfliehen konnte. Übrigens, war Wilhelm Storitz wirklich am Fenster gesehen worden, so mußte er wieder seine materielle Gestalt angenommen haben. Ehe es ihm gelingen konnte, sich unsichtbar zu machen, wurde er ergriffen und diesmal gab es für ihn kein Entweichen, er war der Volksrache verfallen.
Ungeachtet des Widerstandes der Polizei, trotz der Bemühungen ihres Chefs wurde das Gitter erbrochen, das Haus erstürmt, die Türen eingedrückt, die Fenster ausgerissen, die Möbel in den Garten und Hof geworfen, die Apparate im Laboratorium in tausend Trümmer zerschlagen. Dann brach im Erdgeschoß Feuer aus, die Flammen gewannen das obere Stockwerk, züngelten am Dache empor und bald stürzte die Aussichtswarte in den Glutherd hinab.
Wilhelm Storitz aber hatte man vergeblich in dem Hause, im Hof und Garten gesucht. Entweder war er nicht da gewesen oder es war unmöglich, ihn zu entdecken.
Langsam verzehrte das an zehn Stellen gelegte Feuer das ganze Haus; nach einer Stunde blieben nur noch die vier Mauern stehen.
Vielleicht war es besser, daß es zerstört war. Vielleicht wurden die Gemüter beruhigt, vielleicht dämmerte in der Bevölkerung von Ragz der Glaube auf, daß Wilhelm Storitz, trotz aller geheimen Hilfsmittel, trotz seiner Unsichtbarkeit, in den Flammen umgekommen war?!
Fußnoten
1 Seit der Niederschrift dieses Manuskriptes sind auch tatsächlich die infraroten und ultravioletten Strahlen entdeckt worden, was diese Hypothese teilweise bestätigt.
XV.
Nach der Zerstörung des Hauses wollte es scheinen, als ob die Wogen der Aufregung in der Stadt sich etwas gelegt hätten. Man schien sich beruhigen zu wollen. Wie ich vermutet hatte, neigte ein Teil der Bewohner der Ansicht zu, daß der »Zauberer« im Hause anwesend gewesen sei, als die Menge es erstürmte und daß er in den Flammen den Tod gefunden habe.
Wahr ist, daß man bei der genauen Durchsuchung des Trümmerhaufens, beim Durchwühlen der Asche nichts entdeckte, das diese Meinung bestätigen konnte. Wenn Wilhelm Storitz den Brand mit erlebt hatte, mußte dies von einem Orte aus geschehen sein, wo ihm die Flammen nichts anhaben konnten.
Aber die letzten Nachrichten aus Spremberg stimmten alle in dem Punkte überein, daß Wilhelm Storitz nicht dahin zurückgekehrt sei; daß auch sein Diener Hermann nicht gesehen worden war und daß man nicht wußte, wohin die beiden sich geflüchtet haben konnten.
In der Stadt herrschte also verhältnismäßige Ruhe; leider konnte man dasselbe von dem Hause des Dr. Roderich nicht behaupten.
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