Wilhelm Tell
– das letzte Wort des Stückes gehört, in dem er alle seine Knechte für
frei erklärt, so liegt die Initiative zum Zustandekommen und für die öffentliche Proklamation zumindest des den neuen Gesellschaftsvertrag
begleitenden privaten Ehevertrags und heiligen Lebensbundes bei der Frau. Das war, mit Hofmannsthals Helene Altenwyl aus dem
Schwierigen
zu sprechen, „eine Enormität“, die, wie viele andere Zumutungen des Stücks, gegen die gesellschaftlichen Konventionen und
politischen Vorstellungen der Zeit verstießen.Solcherart Eintritt ins Doppelreich der Freiheit – „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen“ – war 1804 nach den Erfahrungen mit den politischen Umwälzungen in Frankreich nicht
unproblematisch. Es erstaunt jedoch, dass die feierliche Ablösung des Adels durch freie Bürgerinnen und Bürger weder in Weimar
noch in Berlin nennenswerten Anstoß erregte. Nur der Kaisermord sollte im Beisein erlauchter Häupter nicht erwähnt werden,
und das Haus Österreich ließ sich für die Aufführung des Wiener Burgtheaters am 12. April 1810 völlig aus dem Stück streichen und alle Schuld der Tyrannei seines Repräsentanten Geßler zuschreiben. Das zu Anfang
des Jahres 1802 begonnene Schauspiel, das die Geschichte des Schweizer Unabhängigkeitskampfes und des Selbsthelfers Tell zusammenführt
und als Heilsgeschichte, als theatralisch uneingeschränktes Ereignis der Schillerschen Geschichtsphilosophie von den Möglichkeiten
neuer Lebens- und Gesellschaftsformen offenbart, entwickelte sich trotz aller politischen Fußangeln zu einem Volksstück, zu
einem Beispielfall publikumsfähig gemachter Weimarer Klassik sondergleichen. Die Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, deren Muster weit ins 20. Jahrhundert reichen, belegt die immense Popularität des Klassikers.
Für dieses Phänomen gibt es immanente dramaturgische Gründe. Schiller hatte seine zeitgenössischen politischen Fragestellungen
an einem aus der Vergangenheit entlehnten Beispiel demonstriert und in einem utopischen Gegenentwurf gelöst, der das Allgemeine
und das Individuelle zu einem befriedigenden Ausgleich bringt. Dabei war eine dramaturgische Grundentscheidung gegen diehistoriographische Quellenlage ausschlaggebend für den Erfolg des Schauspiels. Tell nimmt bei Schiller nicht am Treffen auf
dem Rütli teil. Er steht damit zwar nicht gegen, aber doch neben dem allgemeinen historischen Fortschritt. Seine Person und
seine Existenz konterkarieren eine verabsolutierte idealistische Auffassung, die der Geschichte ureigenen Sinn und Autonomie
jenseits des Menschen zubilligt, und gewährleistet daneben das Individuum, betont es als Subjekt dieser Geschichte, zumindest
als Katalysator positiver historischer Prozesse. Ganz anders als bei all jenen von der Gemeinschaft abgelösten feudal-aristokratischen
Macht- und Herrschaftssubjekten, die das alte Geschichtsschauspiel, die große Haupt- und Staatsaktion bevölkerten, ist Tells
Beziehung zum Gesellschaftsvertrag geprägt von Solidarität einerseits bei gleichzeitig distanzhaltender Individualität und
Spontaneität andererseits. Diese neue Zweigleisigkeit des historischen Prozesses bedingte die Ausführlichkeit jener Episoden,
in denen Tell – wie auf der langen Rütliszene – dem Stück verloren zu gehen scheint und die die Zeitgenossen, dem alten dramaturgischen
Konzept noch tief verpflichtet, als mangelnde Einheit der Handlung empfanden. Das weise Abwägen und Ausspielen aller Absolutheitsansprüche
gegeneinander, die Auflösung von Tells eigenen durchaus sentimentalischen Grübeleien und Reflexionen in der sentenzenhaften
Allgemeingültigkeit und naiven Natürlichkeit der Sprache des Volkes ließen die so synthetisierte literarische Figur zu einer
Idealgestalt werden, mit der das ideologisch sich in Einseitigkeiten verabsolutierende 20. Jahrhundert zunehmend Schwierigkeiten bekam und zu der es seinerseits auf Distanz ging.
Wilhelm Tells
Erfolgauf dem Theater des 19. Jahrhunderts geriet ins Zwielicht. Obwohl die völkisch-nationale Bewegung Schiller im Allgemeinen und dem
Wilhelm Tell
wegen seiner Idee der Schicksals- und Volksgemeinschaft im Besonderen große Verehrung zollte, ließ Hitler das Sück, das nach
Heimholung Österreichs ins Reich am 12. März 1938 im Burgtheater als Festvorstellung zum Geburtstag des Führers (20. April 1938) gegeben wurde, im Jahre 1941
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