Will Gallows – Der Schrei des Donnerdrachen (German Edition)
Augenblick so weit sein. Auf dem Weg hierher habe ich ein Beben erlebt, das stärker war als alle anderen bisher.«
Mein Großonkel blickte zum Himmel hinauf. »Diese Dinge müssen wir dem Großen Geist überlassen. Das Schicksal meiner Schwester liegt in seinen Händen.« Dann reichte er mir einen Pfeil und sagte: »Zünde die Spitze an.«
Ich nahm den Pfeil, legte die Hand um die Spitze und konzentrierte mich. Nach einer Weile stiegen erste Rauchwölkchen zwischen meinen Fingern auf. Ich blies vorsichtig hinein und nahm schnell die Hand weg. Auf der Pfeilspitze tanzte jetzt eine Flamme.
Ich war stolz, weil ich den Zauber so schnell beherrschte.
»Gut. Und jetzt schieß den Pfeil genau in die Mitte des Baumes.«
»Kein Problem.« Das übten wir schon seit Wochen. Und ich war schon, bevor mein Onkel überhaupt angefangen hatte, mich zu unterrichten, kein schlechter Schütze gewesen. Aber jetzt, nachdem der Beste der Besten mich gelehrt hatte, war ich noch viel besser geworden.
Ich zielte und ließ den Pfeil los. Er surrte durch die Luft und bohrte sich in das weiche Holz des Stammes – Volltreffer! Der Baum war ein Sattelholzbaum, und Sattelholz besitzt ein paar magische Eigenschaften. Wenn man die Rinde abzieht, dann fängt das Holz sanftlilafarben an zu schimmern. Das Licht reicht aus, um zum Beispiel unterirdische Höhlen und Bergwerke zu beleuchten. Die unterirdische Stadt Deadrock wird fast ausschließlich von Sattelholzfackeln erhellt. Außerdem ist es feuerfest. Darum richtete mein brennender Pfeil auch keinen Schaden an. Die Flamme ging einfach aus.
»Hmmm, das war zu einfach für dich.« Onkel Wilder Wolf nahm mir Pfeil und Bogen weg. »Vielleicht sollten wir heute mal mit dem Blasrohr üben, wo du es schon erwähnt hast.«
Ich öffnete den perlenbesetzten Beutel an meinem Gürtel, holte einen kleinen Pfeil heraus – geschnitzt aus Schilfrohr und mit der Daune eines feuerspeienden Adlers versehen – und legte ihn in das Mundstück des Blasrohrs. Dann legte ich das Rohr an die Lippen.
»Nicht so hastig. Heute versuchen wir mal etwas anderes.«
Onkel Wilder Wolf griff nach einer der Medizinmannmasken und sagte: »Nimm deinen Hut ab.«
Ich gehorchte, und er stülpte mir die Maske über den Kopf.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und setzte den Cowboyhut auf die Maske.
Wilder Wolf lachte. »Also, jetzt siehst du wirklich lächerlich aus, du Cowboymedizinmann.«
Ich taumelte blind umher und stieß schließlich gegen einen Baum. »Ich kann ja gar nichts sehen, Onkel. Die Maske hat keine Gucklöcher.«
»Ich weiß. Und jetzt nimm das Blasrohr und triff mit dem Pfeil den Baum.«
»Was?«
»Du hast schon richtig gehört. Schieß auf den Baum.«
»Aber ich kann nichts s…«
»Für einen richtigen Medizinmann spielt das keine Rolle.«
Ich zielte in die Richtung, in der ich den Baum vermutete, und pustete. Der Pfeil sauste durch die Luft, aber als kein dumpfes Geräusch folgte, wusste ich, dass ich mein Ziel verfehlt hatte.
»Nicht gut«, sagte Wilder Wolf.
»Ich weiß. Aber in Phoenix Creek hat es geklappt, mit Pfeil und Bogen. Da habe ich in der Dunkelheit den Hut der Wolferine getroffen.«
»Genau das macht mir ja solche Sorgen. Wenn du bedroht wirst, kannst du zaubern. Aber das sind genau die Situationen, wo die Gefahr besteht, der dunklen Seite des Elfenzaubers zu verfallen. Versuch’s noch einmal. Aber dieses Mal verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern höre auf dein inneres Ich. Flieg mit dem Pfeil mit, spüre, wie der Wind über dich hinwegstreicht. Manchmal glauben wir nur, dass wir etwas sehen. Wir verlassen uns so sehr auf unsere Augen, dass wir vergessen, was sie uns eigentlich sagen wollen. Mit geschlossenen Augen und mit ein klein wenig Zauberei können wir aber sehr viel mehr erkennen.«
Ich legte das Blasrohr erneut an die Lippen und stellte mir das Zentrum des Baumes vor.
»Du darfst erst pusten, wenn du dem Pfeil nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen vertraust.«
Zuerst konzentrierte ich mich auf den Geschmack des Blasrohrs, dann auf den Pfeil. Dann tastete mein Bewusstsein sich weiter vor. Vor meinem inneren Auge entstand ein Bild von der Baumrinde. Es wurde immer größer, zuerst verschwommen und dann klarer und klarer. Ich ließ meine Arme von dieser Vision leiten, schwenkte das Blasrohr erst ein bisschen nach links, dann nach rechts und dann … Schuss.
»Volltreffer!«
Ich nahm die Maske ab und hielt den Atem an. Der Pfeil
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