Will Trent 01 - Verstummt
bekommen und zu erfahren, dass der eigene nutzlose Sohn in der Notaufnahme liegt?« Er beugte sich übers Bett, sein Gesicht war rot und nur wenige Zentimeter von Johns entfernt. Sein Atem roch nach Pfefferminze, und John schoss durch den Kopf, dass sein Vater sich die Zeit genommen hatte, die Zähne zu putzen, bevor er ins Krankenhaus fuhr.
»Weißt du, was für Typen so eine Scheiße machen?«, hatte sein Vater gefragt und sich vom Bett hochgestemmt. »Nutzlose Junkies tun so was.« Händeringend ging er in dem kleinen Zimmer auf und ab. Dann drehte er sich um und nickte einmal knapp, als hätte er eine unumstößliche Entscheidung getroffen.
John versuchte es noch einmal. »Dad...«
»Du bist nicht mein Sohn«, wiederholte Richard und schloss die Tür hinter sich.
»Der kriegt sich schon wieder ein«, meinte seine Mutter, aber John wusste es besser. Diesen Blick hatte er in den Augen seines Vaters noch nie gesehen. Enttäuschung, ja. Hass - das war etwas Neues.
John dachte an diesen Blick, als er am Tag nach dem Streit mit seinem Vater in der Notaufnahme durch die Nachbarschaft schlenderte.
»Nur eine Stunde«, hatte seine Mutter gesagt, aber nicht hinzugefügt: »Sag deinem Vater nichts«, weil sie beide wussten, dass es seinem Vater egal war. Als hätte die Szene im Krankenhaus nicht schon gereicht, war Richard an diesem Morgen in sein Zimmer gekommen und hatte ihm unverblümt gesagt, er werde ihn bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr mit Essen und Kleidung versorgen, aber dann wolle er, dass er aus seinem Haus und seinem Leben verschwinde. Er rieb sich die Hände und streckte ihm dann demonstrativ die Innenflächen entgegen. »Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Ich wasche mir dich von den Händen.«
Der Wind wurde stärker, und John zog die Jacke enger um den Oberkörper. Obwohl er in der Nacht zuvor fast gestorben wäre, wollte er jetzt eine Linie, etwas, das die Anspannung ein wenig linderte. Doch er würde es nicht tun, nicht wegen seinem Dad oder seiner Mom, sondern weil er Angst hatte. John wollte nicht sterben, und er wusste, dass das Koks ihn früher oder später umbringen würde. Er hatte ja eh nur einige Male geschnupft, oder? Da sollte es doch nicht so schwer sein, damit aufzuhören. Trotzdem, egal, wie viel Gras er rauchte, die Gier schmerzte in seinem Körper, als hätte er eine Rasierklinge verschluckt. Dieser verdammte Woody und seine blöden Partys. »Hey.«
Aus seinen Gedanken gerissen hob John den Kopf. Mary Alice Finney saß auf einer der Schaukeln auf dem Spielplatz.
Der Hass auf sie zuckte in ihm wie ein Blitz. »Was tust du denn hier?«
»Wusste gar nicht, dass der Spielplatz dir gehört«, sagte sie. »Solltest du nicht in der Schule sein?« »Ich schwänze.«
»Ach ja«, sagte er mit einem verächtlichen Schnauben, bei dem er Blut in der Kehle schmeckte. »Scheiße«, sagte er und hielt sich die Hand an die Nase. Blut floss heraus, als hätte jemand einen Hahn aufgedreht.
Mary Alice war neben ihm. Sie hatte ein Papiertaschentuch in der Hand - warum hatten Mädchen immer solche Sachen dabei - und drückte es ihm an die Nase.
»Du musst dich hinsetzen«, erklärte sie und führte ihn zum Klettergerüst. Er hockte sich auf die unterste Stange; sein knochiger Hintern spürte die Kälte des Metalls durch die Jeans. »Beug den Kopf nach vorn.«
Er hatte die Augen geschlossen, aber er spürte ihre Hände auf ihm: eine im Nacken, die andere, die das Taschentuch an seine Nase hielt. Eigentlich sollte man ja den Kopf in den Nacken legen, wenn man Nasenbluten hatte, aber es war ihm egal, solange sie ihn berührte.
Sie seufzte. »John. Warum tust du dir das an?«
Er öffnete die Augen, sah Blut zwischen seinen Füßen auf den Sand tropfen. »Schwänzt du wirklich die Schule?« »Eigentlich hatte ich ja einen Arzttermin, aber meine Mutter hat vergessen, mich abzuholen.«
John versuchte, den Kopf zu drehen, aber sie ließ es nicht zu. Mütter vergaßen keine Arzttermine. So etwas passierte einfach nicht.
»Ja«, sagte sie, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Meine Eltern lassen sich scheiden.«
John richtete sich so schnell auf, dass er Sterne vor den Augen sah.
Sie war verlegen, presste die Hände um das blutige Taschentuch zusammen. »Mein Dad hat etwas mit dieser Frau aus seinem Büro.« Er sah das grimmige Lächeln auf ihrem Gesicht. Die Eltern der perfekten Mary Alice trennten sich.
»Sie heißt Mindy. Dad will, dass ich sie kennenlerne. Er glaubt, dass wir gute
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