Will Trent 01 - Verstummt
Freundinnen werden.«
John konnte beinahe hören, wie Paul Finney das sagte. Er war Anwalt, und er hatte wie die meisten Anwälte die Arroganz zu glauben, dass alles, was aus seinem Mund kam, das Wort Gottes war.
John grub die Schuhspitze in den Sand. »Tut mir leid, Mary Alice.«
Sie weinte, und er sah, wie sie ihre Tränen anstarrte, die in den Sand tropften, so wie er zuvor sein Blut angestarrt hatte.
Er hasste sie, oder? Nur wollte er jetzt den Arm um sie legen und ihr sagen, dass alles schon wieder okay werde.
Er musste jetzt etwas tun, etwas, um sie zu trösten. Und so platzte es aus ihm heraus: »Willst du auf eine Party gehen?«
»Eine Party?«, fragte sie naserümpfend. »Wie, mit deinen Kifferfreunden?«
»Nein«, antwortete er, aber sie hatte recht. »Mein Cousin Woody schmeißt am Samstag eine Party. Seine Mom ist nicht da.«
»Wo ist sie?«
»Keine Ahnung«, gab John zu. Er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, aber Woodys Mom war so oft nicht da, dass er praktisch allein lebte. »Du könntest vorbeikommen.«
»Ich wollte eigentlich mit Susan und Faye in die Mall gehen.«
»Komm danach.«
»Ich hab mit diesen Leuten doch nichts zu tun«, meinte sie. »Außerdem dachte ich, du hast Hausarrest nach dem, was passiert ist.«
Dann wusste also schon die ganze Schule über seinen Ausflug in die Notaufnahme Bescheid. John hatte gedacht, es würde wenigstens ein paar Tage dauern, bis die Geschichte die Runde machte. »Nein«, sagte er und dachte an seinen Vater, wie er ihn an diesem Morgen angesehen hatte. Genau so, wie er den toten Onkel Barry in seinem Sarg angeschaut hatte, den Mund voller Abscheu verzerrt. Lebemann. Frauenheld. Gebrauchtwagenhändler.
Mary Alice fragte: »Wo wohnt dein Cousin?«
John nannte ihr die Adresse, es war nur drei Straßen entfernt. »Na komm«, sagte er, »sag, dass du vorbeischaust.«
Sie rümpfte noch einmal die Nase, aber diesmal wirkte es neckisch. »Okay«, sagte sie, und dann, um sich selbst ein Hintertürchen offen zu lassen, »ich überleg es mir.«
Kapitel 11
77.Oktober 2005
John lag dösend in seinem Bett in der Absteige, als es an der Tür klopfte. Er drehte sich zum Wecker um und kniff die Augen zusammen, um die Ziffern lesen zu können. Halb sieben. Er hatte noch eine Stunde, bis er aufstehen musste.
»Klopf-klopf«, sagte eine Frauenstimme, und er legte sich stöhnend wieder auf den Rücken. »Morgenstund hat Gold im Mund, Chorknabe«, säuselte Martha Lam. Das Erste, was er über seine Bewährungshelferin herausgefunden hatte, war, dass sie Überraschungsbesuche liebte.
»Einen Augenblick!«, rief er, setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen.
»Keinen Augenblick, Cowboy«, beharrte Ms. Lam, und ihre Stimme klang höflich, aber bestimmt. »Sie machen sofort die Tür auf, verstanden?«
Er gehorchte, und zwar schnell, denn er wusste, wenn sie es sich in den Kopf setzte, konnte sie ihn wieder in den Knast schicken, bevor der Tag zu Ende war.
Mit einer Hand am Rahmen stand sie vor der Tür, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, als freute sie sich, ihn zu sehen. Sie war angezogen wie immer: gebügelte schwarze Bluse, goldfarbene Lame-Weste und eine enge schwarze Lederhose. Mit ihren hochhackigen Stripperinnenschuhen und der Glock im Holster am Gürtel hätte sie als Covergirl für ein Fetischmagazin durchgehen können.
Sie warf einen kurzen Blick auf die Ausbuchtung in seinen Shorts und deutete dann den Gang entlang zum Badezimmer.
»Gehen Sie mal Ihren kleinen General begrüßen. Ich schaue mich inzwischen allein ein wenig um.«
John legte die Hände vor den Schritt, er kam sich vor wie fünfzehn. »Ich muss ins Bad«, sagte er.
Wieder lächelte sie ihn freundlich an, und ihr Südstaatenakzent ließ ihre Worte höflich klingen. »Könnten Sie mir vielleicht einen von diesen Bechern vom Wasserkühler unten im Gang vollmachen?«
So schnell es ging, eilte er zum Gemeinschaftsbad, pinkelte so schnell er konnte, hielt zum Schluss den Becher unter den Strahl, um ihn für den Drogentest zu füllen, und lief danach in sein Zimmer zurück. Ms. Lam war jetzt dabei, seine Sachen zu durchsuchen, und obwohl John wusste, dass sie nichts finden würde, fühlte er sich schuldig und hatte eine Heidenangst davor, dass sie ihn wieder ins Gefängnis stecken könnte. Die Jungs im Knast redeten über Bewährungshelfer, dass sie einem Zeug unterschoben, wenn sie einen nicht mochten, dass sie mit Sexualstraftätern besonders hart umsprangen, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher