Will Trent 01 - Verstummt
nur einen Vorwand suchten, um einen wieder ins Loch zu schicken.
Sie hielt ein gerahmtes Foto seiner Mutter in der Hand, als er zurückkam.
»Das wurde letztes Jahr aufgenommen«, sagte er mit einem Kloß im Hals. Emily stand im Besuchersaal des Gefängnisses. John hatte den Arm um sie gelegt; die schmutzig weiße Wand diente als Hintergrund. Es war sein Geburtstag gewesen. Joyce hatte das Foto gemacht, weil seine Mutter darauf bestanden hatte.
»Hübsch«, sagte Ms. Lam. John nannte sie immer Ms. Lam und nie Martha, weil sie ihm Angst machte und er ihr beweisen wollte, dass er Respekt hatte.
Sie öffnete die Rückseite des Rahmens und suchte nach -was? Er wusste es nicht, aber er spürte, dass er schwitzte, bis sie das Foto wieder auf den Pappkarton stellte, den er als Nachtkästchen benutzte.
Als Nächstes blätterte sie die Taschenbücher durch, die er sich aus der Bücherei ausgeliehen hatte, und machte Bemerkungen über die Titel. »Tess von den d'Urbervilles?«, fragte sie mit dem letzten Buch in der Hand.
Er zuckte die Achseln. »Ich habe es noch nicht gelesen.« Er war verhaftet worden an dem Tag, an dem Ms. Rebuck, seine Englischlehrerin, verkündet hatte, dass Tess das Thema ihres nächsten Aufsatzes sein werde.
»Hm«, sagte sie und untersuchte das Buch noch einmal genauer.
Schließlich legte sie es weg, stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich im Zimmer um. Da John über keine Kommode verfügte, lag seine Kleidung zusammengelegt und in ordentlichen Stapeln auf der roten Kühlbox, in der er sein Essen aufbewahrte. Er sah, dass sie die Klamotten bereits durchsucht hatte, weil das oberste T-Shirt anders zusammengelegt war, und vermutete, dass sie auch die Bananen, das Brot und das Glas mit Erdnussbutter in der Box inspiziert hatte. Das Zimmer besaß nur ein Fenster, aber es war mit Packpapier verklebt, damit ihn die frühe Morgensonne nicht weckte. Ms. Lam hatte die Ecken angehoben, um nachzusehen, ob er dahinter vielleicht Konterbande versteckt hielt. Eine nackte Glühbirne an der Decke beleuchtete das Zimmer. Ihm fiel auf, dass sie auch die Stehlampe neben dem Bett kontrolliert hatte. Der Schirm war schief.
Sie sagte: »Matratze anheben bitte«, und dann, als wären sie alte Freunde: »Ich habe mir eben die Nägel machen lassen.«
John tat zwei Schritte in das winzige Zimmer und stand vor der Matratze. Er hob sie an und lehnte sie gegen die Wand, so dass sie den dreckigen Lattenrost darunter kontrollieren konnte. Beide sahen sie gleichzeitig die Unterseite der Matratze. Die Blutflecken und ein weißlich-grauer Kreis ließen Ms. Lam angewidert die Stirn runzeln.
»Den auch«, sagte sie und deutete auf den Lattenrost, der direkt auf dem Boden lag.
Er hob auch den an, und beide sprangen sie zurück wie zwei kleine Mädchen, als eine Kakerlake über den schmuddeligen braunen Teppich krabbelte.
»Bäh«, sagte sie. »Noch kein Glück bei der Suche nach einem anderen Zimmer?«
Er schüttelte den Kopf und ließ Lattenrost und Matratze wieder zu Boden sinken. Er hatte sogar Glück gehabt, dieses Loch zu finden. So wie im Gefängnis versuchten auch so billige Absteigen gewisse Standards einzuhalten, und viele von ihnen nahmen keine Sexualstraftäter auf, vor allem wenn die Opfer jung gewesen waren. John steckte in einem Haus mit sechs staatlich registrierten Männern fest. Einer hatte einem achtjährigen Mädchen nachgestellt. Ein anderer vergewaltigte gern alte Frauen.
»Na ja«, sagte Ms. Lam, nun wieder fröhlich. »Ich schätze, das Pedo Arms wird für den Augenblick genügen müssen.« Sie deutete auf den Pappkarton neben dem Bett. »Aufmachen, bitte.«
»Da ist nichts...« Er gab es auf, weil er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Er nahm den Stapel Bücher von dem Karton und legte ihn aufs Bett, stellte dann das Foto seiner Mutter obendrauf, weil er nicht wollte, dass der Rahmen mit den schmutzigen Laken in Berührung kam.
Er öffnete den Karton und zeigte ihr, dass er leer war.
Sie ging ihre Checkliste durch. »Sie verstecken doch kein Viagra hier irgendwo, oder?« John schüttelte den Kopf. »Illegale Drogen? Pornos? Irgendwelche Waffen?«
»Nein, Ma'am«, versicherte er ihr.
»Sie arbeiten noch immer im Gorilla?«
»Ja, Ma'am.«
»Wenn sich irgendwas ändert, sagen Sie mir sofort Bescheid, okay?« »Ja, Ma'am.«
»Gut.« Sie hatte die Hände wieder in die Hüften gestemmt. »Heute war alles in Ordnung.« »Danke«, sagte er.
Sie drohte ihm mit einem manikürten Finger.
Weitere Kostenlose Bücher