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Will Trent 01 - Verstummt

Will Trent 01 - Verstummt

Titel: Will Trent 01 - Verstummt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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machte ein zweifelndes Gesicht. Später sollte er herausfinden, dass bis auf einen Geschworenen, einen Vater von drei Jungen, von denen einer in Johns Alter war, alle anderen für die Todesstrafe plädiert hatten. Diese anderen hatten John nur einmal angesehen und dann die riesenhaft vergrößerten Fotos von Mary Alices verstümmeltem Körper, und sie wollten seinen Tod.
    In der Arrestzelle ließ er immer wieder Revue passieren, was während des Prozesses über ihn gesagt wurde. Der staatlich bestellte Psychologe hatte bei ihren Gesprächen einige Monate zuvor sehr nett gewirkt, doch vor Gericht hatte er coram publico erzählt, John sei offensichtlich ein Psychopath mit Wahnvorstellungen, ein kaltblütiger Killer, der keine Reue zeige. Dann waren da die Jugendlichen aus Johns Schule, die während der Urteilsfindung aufgestanden waren und darüber gesprochen hatten, was für ein braves Mädchen Mary Alice doch gewesen sei und was für eine grässliche Person John Shelley schon immer war. Rektor Binder, Trainer McCollough - sie alle hatten über ihn gesprochen, als wäre er Charlie Manson.
    Wer war der Mensch, von dem sie da redeten? John erkannte sich nicht wieder. Die Hälfte dieser Schüler hatte in den letzten drei Jahren kaum zwei Worte mit ihm gewechselt, aber jetzt taten sie so, als wüssten sie alles über ihn. Es hatte diesen Bruch gegeben, als sie von der Grundschule in die Mittelschule wechselten und die populäre Clique ihn ausschloss. Ohne den Sport wäre er nur irgendein komischer Kauz gewesen, mit dem man lieber nichts zu tun hatte. Als man ihn aus dem Footballteam warf, würdigte man ihn im Schulkorridor keines Blicks mehr. Und jetzt war John, so sagten zumindest diese »seine Freunde«, ein Monster.
    John hatte den Betonboden seiner Zelle angestarrt und die Risse verfolgt, die ihn überzogen, als wäre er ein Handleser, der versuchte, seine eigene Zukunft vorauszusagen. Als er den Kopf hob, stand Paul Finney auf der anderen Seite der Gitterstäbe.
    Mary Alices Vater lächelte.
    »Viel Spaß jetzt, du kleiner Scheißhaufen«, sagte er zu John. »Was Besseres kriegst du im Leben nicht mehr.«
    John gab keine Antwort. Was hätte er schon sagen sollen?
    Mr. Finney hielt die Stangen umklammert und trat ganz nah ans Gitter. »Denk daran, was du ihr angetan hast«, flüsterte er. »Denk daran, wenn du dich in der Dusche bückst.«
    John verstand nicht. Er war sechzehn Jahre alt. Auch wenn Mr. Finney es ihm bis ins letzte Detail erklärt hätte, hätte John nur den Kopf geschüttelt und gesagt, das sei nicht möglich.
    Aber es war möglich.
    An diesem Abend behielt man ihn im Bezirksgefängnis, und jede halbe Stunde kam eine Wache vorbei, um sicherzustellen, dass er sich aus seinen Laken keine Schlinge drehte. Das Coastal State Prison lag am Atlantischen
    Ozean, mehrere hundert Meilen entfernt in einer Stadt, von der John noch nie etwas gehört hatte. Das Gefängnis hatte sehr strenge Besuchsregelungen. Einen ganzen Monat würde er dort absitzen müssen, bevor man seiner Mutter zum ersten Mal gestatten würde, ihn zu besuchen. Es hieß, das sei die Zeit der Akklimatisierung, die Zeit, die man dem Gefangenen gab, um sich an seine Umgebung zu gewöhnen und zu beweisen, dass er das Privileg, Besuch zu erhalten, wirklich verdiente. Die längste Zeit, die John je ohne seine Familie verbracht hatte, war ein einwöchiges kirchliches Ferienlager in Gatlinburg, Tennessee, gewesen.
    Sie weckten ihn bei Tagesanbruch, um nicht in den Stoßverkehr zu geraten. Mit gefesselten Füßen und Händen stolperte John in den Gefangenentransporter. Seine Handgelenke waren so schmal, dass sie sich im Frauengefängnis kleinere Handschellen leihen mussten. Er war schon immer sehr dünn gewesen, und der ganze Stress hatte ihn noch mehr Gewicht verlieren lassen. Während des Prozesses hatte er fast zwanzig Pfund abgenommen, und unter der schlotternden, orangefarbenen Kluft, die er trug, zeichneten sich deutlich seine Rippen ab.
    Im Bus saßen bereits andere Männer, die pfiffen und johlten, als John einstieg. Er lächelte, weil er dachte, das sei eine Art Ritus.
    »Sei stark«, hatte seine Mutter gesagt, und wieder klang sie wie aus einem Kojak-Film. »Lass dir von keinem was gefallen, und trau niemandem.«
    Einer der Wachleute hatte mit seinem Schlagstock auf das Gitter geschlagen, das den Fahrer von den Gefangenen trennte. Er deutete auf einen Platz direkt hinter dem Fahrer und sagte zu John: »Sir.«
    Der Bus verfügte über keine

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