Will Trent 01 - Verstummt
Einsamkeit, der Isolation. Zwanzig Jahre, in denen Emily zweimal im Monat die Demütigung des Besuchs bei ihrem Sonn über sich ergehen lassen musste. Zwanzig Jahre, in denen Joyce innerlich von der Überzeugung aufgefressen wurde, ihr Bruder sei ein Monster.
Zwanzig Jahre, in denen Woody in Freiheit lebte, einen guten Job bekam, heiratete, ein Kind in die Welt setzte und sich sein Leben einrichtete.
John stieg vorsichtig über den Zaun. Er bemerkte, dass er noch immer Woodys Klappmesser in der Hand hielt, und legte es neben sich auf die Erde, während er sich vor das Mädchen kniete. Im Gefängniskrankenhaus hatte er gelernt, wie man nach dem Puls tastete. Sie hatte keinen. Auch ohne dieses Indiz sah er an der Art, wie ihr Schädel zertrümmert war, dass sie wahrscheinlich in der Sekunde gestorben war, als ihr Kopf gegen den großen Stein auf der anderen Seite des Zauns krachte. Der Quarzbrocken war blutverschmiert, Strähnen ihrer langen blonden Haare klebten in der Feuchtigkeit.
Er hockte sich auf die Absätze und erinnerte sich an den Augenblick, als er Mary Alice zum letzten Mal gesehen hatte. Ihre Augen. Er würde ihre Augen nie vergessen, wie sie ins Leere starrten. Doch die eigentliche Geschichte erzählte ihr Körper. Sie hatte entsetzliche Dinge durchlitten, unaussprechliche Dinge. Er hatte noch immer die vergrößerten Fotos während seines Prozesses vor Augen, diese Bilder, die Mary Alice Finneys misshandelten Körper allen Blicken enthüllten. Er erinnerte sich, wie seine Tante vor den Geschworenen auf und ab gegangen war, und dass er damals gedacht hatte, dass dieses Aufundabgehen schlecht war, weil es nichts anderes tat, als die Aufmerksamkeit auf die Bilder hinter ihr zu lenken.
»Ist schon okay«, hatte John zu Lydia gesagt, als sie ins Coastal gekommen war, um ihm zu erklären, dass alle Rechtsmittel ausgeschöpft seien, dass er wahrscheinlich im Gefängnis sterben würde. »Ich weiß, dass du alles getan hast, was du konntest.«
Lydia hatte ihm geraten, mit der Polizei nicht über Drogen zu sprechen und auch nicht über Woody, weil durch eine Erwähnung ihres Sohnes auch Johns früherer Drogenmissbrauch ans Licht kommen würde, und das wollten sie doch nicht, oder? Wenn Woody in den Zeugenstand müsste, würde er die Wahrheit sagen.
Sie wollten doch nicht, dass Woody die Wahrheit sagte, oder?
Auf der Party an diesem Abend hatte Woody gesagt: »Nichts für ungut«, und ihm die Tüte zugeworfen. Hatte er in diesem Augenblick beschlossen, sich an Mary Alice zu vergehen?
Nichts für ungut. Zwanzig Jahre seines Lebens hatte ihn dieser Zynismus gekostet, und jetzt kannte er nur noch eins - Wut, eine Wut, die brannte, als hätte er Benzin geschluckt und dann ein Streichholz angezündet.
Er betrachtete das Mädchen. Sie war noch ein Kind, aber auch eine Botin.
John zog sich der Magen zusammen, als er seine latexumhüllten Finger in den Mund des Mädchens steckte und mit Daumen und Zeigefinger die Zunge herauszog.
Woody hatte ihm diese ganze Scheiße angehängt. Jetzt würde er den Spieß umdrehen. Das Wichtigste, was man im Gefängnis lernte, war, dass man das Eigentum eines anderen Mannes nicht anrührte, außer man war bereit, dafür zu sterben.
»Woody«, hatte er ihn genannt, aber das war der Name eines Jungen, und jetzt war Woody kein Junge mehr. Er war ein Mann, wie John. Er sollte bei seinem Männernamen genannt werden.
Michael Ormewood.
John hob das Messer auf.
Kapitel 20
15. Juni 1985
Du brauchst jetzt erst einmal einen Spaziergang an der frischen Luft, sagte John zu Mary Alice. »So kannst du nicht nach Hause gehen.«
»Hast du schon einmal ein Mädchen geküsst?« Er errötete, und sie lachte.
»Mark Reed«, gestand sie ihm. »Er denkt, er ist jetzt mein Freund, weil er mich nach dem Spiel geküsst hat.«
John schwieg und belegte diesen Kerl mit einem stummen Todesfluch, diesen Mark Reed, Quarterback des Footballteams, stolzer Besitzer einer roten Corvette und dichter Körperbehaarung, die der Wichser in der Umkleidekabine herumzeigte, als würde er bei den Chippendales mitmachen.
»Du hast mir nicht geantwortet«, sagte Mary Alice, und John dachte an Woodys Tüte mit dem weißen Pulver in seiner Hosentasche.
Sie konnte seine Gedanken lesen. »Lass es mich mal probieren.«
»Auf keinen Fall.« »Ich will aber.« »Nein, willst du nicht.«
»Na, komm.« Sie griff in seine Hosentasche, und ihre Hand berührte ihn dabei. John zog so heftig die Luft ein, dass es ihn
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