Will Trent 02 - Entsetzen
Filialleiter aufgestiegen. Dennoch verdiente er nur etwa sechzehntausend Dollar pro Jahr. Eine hübschere Wohnung als das Apartment an der Ashby Street hätte er sich zwar durchaus leisten können, aber unter seinen Möglichkeiten zu leben hatte ihm offensichtlich ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Wenn er seinen Job im Copy Right verlor, wie würde er es anstellen, einen neuen zu finden? Wie konnte er ein Bewerbungsformular ausfüllen? Wie konnte er die Demütigung ertragen, einem Fremden sagen zu müssen, dass er kaum lesen konnte?
Ohne seinen Job konnte Warren seine Miete nicht bezahlen, konnte sich kein Essen, keine Kleidung kaufen. Es gab keine Familie, an die er sich wenden konnte, und was den Staat betraf, so hatte dessen Verantwortlichkeit ein Ende gefunden, als Warren achtzehn Jahre alt geworden war. Er war völlig allein und auf sich gestellt.
Das Copy Right war das Einzige gewesen, was zwischen Warren Grier und der Obdachlosigkeit stand. Will spürte, wie sich ihm in einem Gefühl geteilter Angst der Magen zusammenzog. Wenn er nicht Angie Polaski in seinem Leben hätte, wie ähnlich wäre dann Wills Existenz der Warren Griers?
»Hier«, sagte Billy und gab Will einen Becher.
»Danke«, presste Will hervor und ging zum Wasserkühler. Vor vielen Jahren hatte Amanda freundlicherweise Will als Freiwilligen für eine Taser-Demonstration benannt. Die Erinnerung an den Schmerz verblasste schnell, aber Will wusste noch sehr gut, dass er danach stundenlang an einem anscheinend unstillbaren Durst gelitten hatte.
Will füllte den Becher, stellte sich dann ans Tor zu den Zellen und wartete, bis man ihn wieder einließ. Innerhalb des Sicherheitstrakts hielt er die Augen starr nach vorn gerichtet, denn er spürte die Blicke, die man ihm durch die schmalen Scheiben aus stahlverstärktem Glas in den Zellentüren zuwarf. Evan Bernard saß in diesem Flügel. Billy hatte ihn zu den transsexuellen Frauen gesteckt, zu denjenigen, die noch ihre männliche Ausstattung hatten. Es war bereits durchgesickert, dass Evan Bernard gern junge Mädchen vergewaltigte. Die Transenzelle war der einzige Ort, der ihnen eingefallen war, wo Bernard nicht eine große Dosis seiner eigenen Medizin bekommen würde.
Will öffnete den schmalen Schlitz in Warrens Tür. Er stellte den Becher auf die flache Metallablage. Der Becher wurde nicht genommen.
»Warren?« Will schaute durch das Glas und sah die Spitze von Warrens weißem Gefängnispantoffel. Der Mann saß offensichtlich mit dem Rücken zur Tür. Will kauerte sich hin und brachte den Mund dicht an den Metallschlitz. Die Öffnung war kaum mehr als dreißig Zentimeter breit und acht Zentimeter hoch, gerade groß genug, um ein Metalltablett durchzuschieben.
Will sagte: »Ich weiß, dass Sie sich im Augenblick einsam fühlen, aber denken Sie an Emma. Wahrscheinlich fühlt sie sich auch einsam.« Er hielt inne. »Wahrscheinlich fragt sie sich, wo Sie bleiben.«
Es kam keine Antwort.
»Überlegen Sie, wie einsam sie ohne Sie ist«, präzisierte Will. »Niemand ist da, der mit ihr redet oder ihr sagt, dass Sie okay sind.« Sein Oberschenkel fing an, sich zu verkrampfen, deshalb kniete er sich auf ein Knie. »Warren, Sie müssen mir nicht sagen, wo sie ist. Sagen Sie mir einfach, dass sie okay ist. Mehr will ich im Augenblick gar nicht wissen.«
Es kam noch immer keine Antwort. Will versuchte, nicht an Emma Campano zu denken, daran, wie ihre Angst immer größer würde, wenn die Zeit langsam verging und niemand kam, um nach ihr zu sehen. Wie gnädig wäre es gewesen, wenn er sie gleich an diesem ersten Tag getötet und ihr die Qual der Ungewissheit erspart hätte.
»Warren ...« Will spürte etwas Feuchtes an seinem Knie. Er schaute nach unten, als ihm ein leichter Ammoniakgeruch in die Nase stieg.
»Warren?« Will schaute noch einmal durch den Schlitz; der weiße Slipper war zur Seite gekippt und rührte sich nicht. Er sah, dass das Bett abgezogen war. »Nein«, flüsterte Will. Er schob den Arm durch den offenen Schlitz und tastete nach Warren. Seine Hand fand die verschwitzten Haare des Mannes, spürte seine kalte, feuchte Haut. »Billy!«, schrie Will. »Tür aufmachen!«
Der Wachmann ließ sich Zeit, um zum Tor zu kommen. »Was ist los?«
Wills Finger strichen über Warrens Augen, seinen offenen Mund. »Rufen Sie einen Krankenwagen!«
»Scheiße«, fluchte Billy und riss das Tor auf. Er rammte die Faust auf einen roten Knopf an der Wand und rannte auf die Zelle zu. Der
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