Will Trent 02 - Entsetzen
retardiert?«
Bernard wirkte so schockiert, wie Faith es war. »Natürlich nicht«, erwiderte er. »Tatsächlich hat Emma einen außerordentlich hohen Intelligenzquotienten. Viele Legastheniker sind hochbegabt.«
»Begabt in welcher Hinsicht?«
Er ratterte einige Beispiel herunter. »Scharfe Beobachtungsgabe, sehr gut organisiert, ein außergewöhnliches Detailgedächtnis, sportlich talentiert, handwerklich geschickt. Ich bin mir ganz sicher, dass Emma eines Tages eine gute Architektin sein wird. Sie hat eine außerordentliche Auffassungsgabe für Gebäudestrukturen. Ich unterrichte seit zwölf Jahren hier in Westfield und habe noch nie jemanden gesehen wie sie.«
Will klang ein wenig skeptisch. »Aber sie hat trotzdem Probleme.«
»Ich würde das nicht Probleme nennen. Herausforderungen, vielleicht, aber alle Kinder sind mit Herausforderungen konfrontiert.«
»Aber es ist dennoch eine Krankheit.«
»Eine Störung«, korrigierte er.
Will atmete tief durch, und Faith merkte, dass ihn diese beständigen Euphemismen allmählich irritierten. Trotzdem fragte er weiter: »Und, was sind dann einige der Probleme, die man mit dieser Störung in Verbindung bringt?«
Der Lehrer zählte sie auf: »Defizite in der Mathematik, beim Lesen, Buchstabieren und Textverständnis und beim räumlichen Vorstellungsvermögen, Stottern, Unreife, schlechte motorische Fähigkeiten, die Unfähigkeit, ein Versmaß zu verstehen ... Es ist eigentlich eine ziemlich bunte Mischung, und jedes Kind ist anders. Man kann ein Mathematikgenie haben oder jemanden, der nicht einmal addieren kann, einen Supersportler oder einen totalen Tollpatsch. Emma hatte das Glück, dass die Störung bei ihr früh diagnostiziert wurde. Legastheniker sind sehr geschickt darin, ihre Störung zu verbergen. Leider machen Computer es ihnen einfacher, die Leute zu täuschen. Lesen ist eine sehr fundamentale Fähigkeit, und sie schämen sich, wenn sie nicht einmal die Grundlagen begreifen. Die meisten Legastheniker schneiden bei Prüfungen schlecht ab, außer es sind mündliche, und deshalb sind ihre schulischen Leistungen meistens eher schlecht. Ich glaube, ich bin nicht allein, wenn ich sage, dass einige Lehrer dies als Faulheit oder als Verhaltensstörungen missverstehen.« Bernard ließ diesen Satz in der Luft hängen, als wäre er an einen speziellen Lehrer in diesem Zimmer gerichtet. »Zusätzlich zu diesem Problem ist Emma extrem schüchtern. Sie mag keine Aufmerksamkeit. Sie ist bereit, vieles zu ertragen, nur um nicht aufzufallen oder anzuecken. Sie hatte natürlich gewisse Augenblicke der Unreife, aber meistens ist sie einfach ein introvertiertes Kind, das sich extra anstrengen muss, um irgendwo dazuzugehören.«
Will beugte sich so weit vor, dass er fast von seinem Stuhl rutschte. »Wie haben die Eltern auf diese Information reagiert?«
»Den Vater kenne ich nicht, aber die Mutter ist sehr aufgeschlossen.«
»Gibt es ein Heilmittel?«
»Wie gesagt, Legasthenie ist keine Krankheit, Mr. Trent. Es ist ein Problem der Verdrahtung im Hirn. Man könnte eher erwarten, dass ein Diabetiker spontan Insulin produziert, als dass ein Legastheniker eines Morgens aufwacht und plötzlich rechts von links unterscheiden kann.«
Jetzt verstand Faith endlich, worauf Will mit seinen Fragen hinauswollte. Sie fragte: »Wenn also jemand wie Emma verfolgt würde, würde sie dann eher die falsche Route wählen - die Treppe hinauflaufen anstatt hinunter, was ein Weg in die Freiheit wäre?«
»So funktioniert das nicht. Sie würde wahrscheinlich ganz intuitiv besser als Sie oder ich die beste Route kennen, aber wenn Sie sie dann fragen würden: >Wie bist du da rausgekommen<, würde sie Ihnen nicht sagen können: >Ich habe mich unter dem Couchtisch versteckt, und dann bin ich nach links und die Treppe hinuntergerannt.< Sie würde einfach sagen: >Ich bin davongerannt.< Das Faszinierendste an dieser Störung ist, dass der Verstand das Defizit offensichtlich erkennt und neue Denkpfade entwickelt, die zu Bewältigungsstrategien führen, über die ein typisches Kind gar nicht nachdenken würde.«
Will räusperte sich. »Sie haben gesagt, dass sie aufmerksamer sein dürfte als ein normaler Mensch.«
»Das Wort >normal< benutzen wir hier eigentlich nicht«, hielt Bernard ihm entgegen. »Aber ja, bei Emma würde ich annehmen, dass sie eine bessere Beobachtungsgabe hat.« Er ging noch einen Schritt weiter. »Wissen Sie, meiner Erfahrung nach reagieren Legastheniker differenzierter auf
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