Wille zur Macht
Schütting, dem Sitz der Bremer Handelskammer, den Marktplatz in die Langenstraße verließ, musste sie eine Vollbremsung hinlegen, die sich gewaschen hatte. Ein Fahrzeug der Stadtreinigung wollte gerade ordnungsgemäß auf den Marktplatz einbiegen, um die Überbleibsel des täglichen, touristischen Ansturms zu beseitigen. Aber Ayse hatte es einfach drauf. Blitzschnell schaltete sie einen Gang runter, riss die Handbremse kurz hoch und ließ den Dienstmercedes mit dem Heck so geschickt ausbrechen, dass sie elegant um das Fahrzeug der Stadtreinigung herumdriftete, fing den schleudernden Mercedes ein, und schon heulte der Motor wieder auf, und Ayse setzte ihre rasante Fahrt fort. Mechthild Kayser und Heiner Heller waren vor Schreck blass und stumm geworden. Aber nun befanden sie sich schon auf der Martinistraße in Richtung Westen. Mechthild wollte kein Wort der Kritik äußern. Sie wusste um die Fahrkünste ihrer Freundin, die jedem Mann Respekt abverlangen konnten. Und sie hatten es wirklich eilig. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät. Die Aufklärung des ganzen Falles hing vom erfolgreichen Verlauf dieser Aktion ab.
Souton und Behrmann hatten kein Blaulicht in ihrem Wagen. Sie mussten sich vorsichtig vortasten, waren als Polizisten nicht zu erkennen und kamen deshalb nur langsam voran. Haschner folgte ihnen.
Mit beiden Händen das Lenkrad fest umkrallt, das Gaspedal durchgetreten, drückte Ayse den Wagen in die Linkskurve Richtung Nordstraße. Sie brauchte beide Abbiegespuren, um die über die Vorderräder schiebende Limousine auf Kurs zu halten. Sie wusste genau, wie sie zum Europahafen kommen würde. Sie schien die ganze Stadt im Kopf zu haben. Die Ampel am Hansator zeigte Grün, so dass Ayse mit unvermindertem Schwung nach links abbiegen konnte. Wenige Meter weiter verringerte sie die Geschwindigkeit und bog rechts in den Hafen ein. Mechthild schaltete Einsatzhorn und Blaulicht aus, und der Wagen rauschte zwischen zwei verduzten und erschreckten Zollbeamten hindurch ins Hafengebiet. Noch einmal links, noch einmal rechts; dann hatten sie die Speicher des Europahafens erreicht. Die besonders bei Nacht beeindruckende Kulisse der riesigen Speicherbauten türmte sich vor ihnen auf. Fahles, gelbes Licht fiel von wenigen Laternen auf den großen Rangierplatz zwischen den beiden Speichern. Im Schritttempo ließ Ayse den Wagen auf den Platz rollen. Angestrengt suchte Mechthild mit dem Fernglas die Umgebung ab. Kurz vor dem Ende des Speichers stand an der Ecke eine silberne Mercedes S-Klasse. Daneben ein Mann. Eindeutig Cäsar Hermstein. Aber von Sigrid Janssen keine Spur. Mechthild gab Ayse ein Zeichen, und sie beschleunigte erneut den Wagen. Mechthild schaltete kurz das Blaulicht ein, um Hermstein zu signalisieren, dass sie von der Polizei waren. Ayse stoppte ihren Wagen, so dass die ganze Szenerie durch die Scheinwerfer erhellt wurde. Cäsar Hermstein schien überrascht zu sein, machte aber keine Anstalten, sich zu entfernen. Mechthild Kayser und Heiner Heller stiegen aus und bewegten sich auf Hermstein zu. Ayse blieb hinter der geöffneten Tür des Dienstwagens stehen, ließ den Motor laufen und beobachtete aufmerksam das Geschehen.
„Mechthild Kayser, Kriminalpolizei!“ Sie hielt Hermstein ihren Dienstausweis vor das Gesicht. „Mein Kollege, Herr Heller.“ Heller nickte kurz und sah sich in der Umgebung um. Sigrid Janssen war nicht zu sehen. Und auch im Wagen Hermsteins saß sie nicht.
„Wir hätten gerne mal Ihren Ausweis gesehen“, forderte Mechthild Hermstein auf.
„Kein Problem“, erwiderte dieser, fingerte aus der Innentasche seines Sakkos einen Personalausweis hervor und übergab ihn Mechthild. Sie tat so, als wenn sie ihn eingehend studieren würde. Dann wandte sie sich wieder an Hermstein. „Dürfen wir erfahren, was Sie zu später Stunde hier im Hafen machen?“
Hermstein sah Mechthild eine Zeitlang ernst an. Er dachte darüber nach, ob sie rein zufällig hier war oder einen besonderen Grund hatte. Dann lächelte er. „Ich muss gestehen, ich hatte ein dringendes Bedürfnis und bin deshalb mal eben schnell in den Hafen gefahren. Sie wissen schon: Hier ist ja niemand.“
Mechthild fummelte nervös am Ausweis Hermsteins herum. Wie sollte sie jetzt weitermachen? Aber Heller hatte die rettende Idee. Er wollte unbedingt einen Blick in den Kofferraum der S-Klasse werfen. „Herr Hermstein, können Sie uns mal Warndreieck und Verbandskasten zeigen? Wenn man die nicht dabei hat, ist das eine
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