Wille zur Macht
hierher flüchteten. Viele, die hier ankamen, waren froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Die Brigadisten hatten sich zur Aufgabe gemacht, in San Martin tagsüber möglichst viele neue Häuser zu bauen, um die geflüchteten Menschen unterzubringen, und nachts die Miliz zu verstärken und das Dorf mit der Waffe zu beschützen.
Für die Brigade gab es ein großes Holzhaus mit einer überdachten Veranda und einem Anbau, in dem die Küche und ein Speiseraum eingerichtet waren. Auch hier stand eine hölzerne Kochkiste, die mit Scheiten aus Mahagoniholz befeuert wurde. Die Brigade hatte eine Frau aus San Martin als Köchin angestellt und somit gleich noch einen Arbeitsplatz geschaffen. Sie hieß Juanita und erhielt den gesetzlich vorgeschriebenen Stundenlohn mit einem Zuschlag von der Brigade. Jeden Tag kam sie in demselben verblichenen, hellblauen Kleid mit dem kaum noch zu erkennenden Blütenaufdruck zur Arbeit. Dazu trug sie immer ihre Gummistiefel. Ihre schwarzen, lockigen Haare hingen ihr verfilzt ins Gesicht, und wenn sie lachte, sah man die diversen Lücken in ihrem Gebiss. Aber sie wirkte weder bedrückt noch verängstigt. Sie kochte zu jeder Mahlzeit nur Reis und rote Bohnen. Morgens, mittags, abends. Wer Obst wollte, brauchte nur ein paar Schritte an den Rand des Urwalds zu gehen. Überall wuchsen dort Pampelmusenbäume, die das ganze Jahr über Früchte trugen.
Im Brigadenhaus waren einfach gezimmerte Etagenbetten aufgestellt, auf die die Brigadisten ihre Schlafsäcke legen konnten.
Worauf niemand vorbereitet war, waren die vielen Ratten, die nachts durch das Haus huschten und über die Betten rannten. Aber nach einigen Nächten hatten sich die meisten an sie gewöhnt. Gegen die Ratten konnte man sowieso nichts machen. Wenigstens waren sie nicht allzu groß. Doch ihr Gefiepe war manchmal so laut, dass man davon aufwachte. Ein herzhafter Schlag auf die Bretter eines Bettes verscheuchte sie allerdings und sorgte meistens so lange für Ruhe, dass man wieder einschlafen konnte.
Am ersten Morgen nach ihrer Ankunft wurden die Brigadisten mit dem Dorf vertraut gemacht. Die wichtigsten Leute hier waren die Kakaotechniker, die den Bauern beim Aufbau ihrer Kooperative zur Seite standen, die Lehrer, die den Menschen hier Lesen und Schreiben beibrachten, und Angelita, die den Gesundheitsposten leitete. Jeder von ihnen schlief jede Nacht in einem anderen Haus. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Denn es galt als sicher, dass die Contra das Dorf beobachtete. Und ihr primäres Ziel waren diese Menschen, die die Errungenschaften der Revolution verkörperten.
Dunker hatte einen der Kakaotechniker schon am Vorabend gesehen. Er hatte sich im Haus der Brigade zum Schlafen gelegt – seine Kalaschnikow dabei im Arm.
Heute hatten die Brigadisten zum ersten Mal selbst die Kalaschnikow in der Hand. Der Kommandant der örtlichen Miliz war erschienen und brachte ihnen den Umgang mit der AK bei. Es war ein relativ simpel gebautes Sturmgewehr und galt als sehr widerstandsfähig. Wie sie feststellten, war das einzige, was an der AK nicht richtig funktionierte, die Sicherung. Sie lernten, wie man die AK auseinander- und wieder zusammenbaute, wie man sie reinigte und wie man sie lud. Denn schon heute Nacht würden sie damit beginnen, die ansässige Miliz bei der Bewachung des Dorfes zu unterstützen.
Der Kommandant der Miliz machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Er war schon angetrunken, als er zum Brigadistenhaus kam. Während seiner Erklärungen trank er ständig aus einer mitgebrachten Flasche, in der vergorener Ananasschnaps war.
Etwa fünfzig Meter vom Haus der Brigade entfernt ritt ein junger Mann auf einem braunen Pferd zwischen den vereinzelt stehenden Bananenstauden vorbei. Er war von der Sonne braungebrannt und trug seine langen, schwarzen Haare zu einem Schwanz zusammengebunden. Eine Kalaschnikow hing über seinem Rücken, und durch seine aufrechte Haltung vermittelte er eine ziemlich stolze Pose. Er sah wie ein Europäer aus, machte aber keine Anstalten, zur Brigade zu stoßen, sondern ignorierte sie.
Nach der kurzen Einführung an der AK gingen die Brigadisten mit Renate an den Rand des Dorfes, wo auf einer Lichtung frisch errichtete Holzhütten mit Wellblechdächern standen. Hier hatten sie sich mit ihrer Hauptaufgabe zu befassen. Tagsüber würden sie hier die Hütten für die neuankommenden Flüchtlingsfamilien bauen.
Als Basis der Häuser dienten in die Erde gerammte Pfeiler, auf die dicke Bohlen als Fußboden
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