Wille zur Macht
wurde das Dorf gleich in den nächsten Tagen von der Contra angegriffen. Der Colonel kämpfte tapfer und hatte wahrscheinlich mehrere Söldner erschossen. Jedenfalls war er in erheblichem Maße daran beteiligt, den Angriff zurückzuschlagen. Sein Verhalten hatte ihm einen enormen Respekt bei der Bevölkerung im Dorf und bei der örtlichen Miliz verschafft.
„Na ja, und Ihr habt ja heute den Chef der Miliz erlebt“, fuhr Renate fort. „Er ist ständig besoffen und ballert dann wild in der Gegend rum. Der Colonel hält die Miliz zusammen und ist ihr eigentlicher Führer. Diese Situation ist ihm ein bisschen zu Kopf gestiegen. Jedenfalls hat er sich für ein paar Dollar ein Pferd gekauft und reitet hier seitdem wie ein kleiner König im Dorf herum. Er wohnt auch nicht mehr im Brigadenhaus, sondern hat eine kleine Hütte nebenan vom Chef der Miliz bezogen. Wir haben mit ihm gesprochen, dass uns sein Gehabe nicht passen würde. Es hat ja schon feudalistische Züge. Aber der Chef der Miliz ist auf seiner Seite. Und unsere Beschwerde in Managua hat nichts bewirkt. Also halten wir uns von ihm fern.“
Renate war es offensichtlich peinlich, den Colonel in der Brigade zu haben. Zu deutlich war für sie, dass er nicht einen revolutionären Gedanken verfolgte, sondern seine persönlichen Ziele nach Respekt und Macht befriedigen wollte. Etwas, was alle anderen ablehnten.
Dunker war hin und her gerissen. Zum einen lehnte auch er das Gehabe des Colonel ab. Es war ihm zu arrogant, und es gefiel ihm nicht, dass er eine Position innehielt, die ihn in gewisser Weise unantastbar gemacht hatte. Auf der anderen Seite beneidete er ihn. Der Colonel hatte das geschafft, was für ihn ein Traum war: in diesem Land Fuß fassen und eine neue Zukunft beginnen zu können. Akzeptiert von den Nicaraguanern und irgendwie auch ein bisschen machistisch. Denn Nicaragua war trotz der Revolution ein Macholand. Und hier bewiesen zu haben, dass man ein ganzer Kerl war: Das war schon was.
Aber Dunker wollte sich am Ende nicht eingestehen, dass er ebenso dachte wie der Colonel. Oder zumindest zum Teil. Nein, er würde sich lieber dem Gruppendruck beugen und das tun, was Renate empfohlen hatte. Er würde sich als ehrlicher Brigadist vom Colonel fernhalten. Das war bestimmt besser für ihn.
Gegen zehn Uhr abends kam Matthias zu ihm ans Bett und stieß ihn an. Dunker hatte zwar nicht Schlafen können, da es zu schwül war, aber er war ins Dösen gekommen. Nun schmeckte er einen schalen Geschmack im Mund und verspürte eine leichte Benommenheit im Kopf. Er war jetzt dran. Von zehn bis zwei. Matthias übergab ihm die AK und begab sich selbst ins Bett.
Christian Dunker zog sich seinen Parka an, steckte seinen kleinen, aber sehr guten Photoapparat in eine der Brusttaschen und schob seine Füße in die Gummistiefel. Dann schlich er leise aus dem Brigadenhaus, um die anderen nicht zu stören. Die erste Nacht hatte er Stellung direkt neben dem Haus zu beziehen. Er drückte sich in den rechts von der Veranda befindlichen Schützengraben, legte sein Sturmgewehr über den davor liegenden Baumstamm und begann, die Umgebung zu beobachten. Viel zu sehen gab es nicht. Der Mond brachte gerade so viel Licht durch den wolkenverhangenen Himmel, dass er seinen Weg finden konnte. Der Wind ließ die Blätter der Bäume und Bananen leise rascheln, und bei jeder Bewegung seiner Füße vernahm er ein glucksendes Schmatzen des Schlammes in seiner Grube, in dem seine Gummistiefel festzukleben drohten. Je länger er in seinem Schützengraben ausharrte, desto klarer wurde ihm, worin die besondere Gefahr seines Auftrags lag: Jeder Gegner konnte sich bis auf wenige Meter heranpirschen, ohne entdeckt zu werden. Hier, wo es weder Straßenlaternen noch Scheinwerfer gab. Wo keine Stadt ihr Streulicht gen Himmel sandte und die Umgebung erleuchtete. Mehrmals erschrak er, als sich in der Ferne leuchtende Punkte bewegten. Aber es waren nicht die glimmenden Spitzen der Zigaretten rauchender Contras, sondern lediglich Glühwürmchen, die es hier zuhauf gab. Kein Contra würde so blöd sein und vor einem Überraschungsangriff rauchen. Dunker aber rauchte in seiner Stellung. Er hielt geschickt die hohle Hand über die Glut der Zigarette und dunkelte sie so ab.
Die Stunden wollten nicht vergehen. Nichts rührte sich zu dieser Zeit im Dorf. Keine ungefährliche Ablenkung bot sich dem Ohr an. Christian Dunker wurde müde. Bloß nicht einschlafen. Das durfte ihm nicht passieren. Auch wenn Wache
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