Wille zur Macht
Mechthild nun am liebsten an sich gerissen. So sehr war er von seinen Gefühlen in diesem Moment überwältigt. Aber er konnte sich beherrschen. Er wollte sie auf keinen Fall überrumpeln. Ganz vorsichtig beugte er sich nach vorne und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ja, ich freue mich auch schon darauf, Mechthild!“
„Bis morgen, Fritz!“
Er strahlte sie noch einmal liebevoll an, wortlos. Dann schritt er beschwingt die Stufen vor Mechthilds Haus hinunter und ging langsam die Humboldtstraße entlang. Er überlegte, ob sie ihm nachsehen würde, wollte sich selbst aber auf keinen Fall umdrehen. Er wusste nicht genau warum, aber so hielt sich die glückliche Spannung in ihm.
Mechthild sah ihm lange nach, und sie spürte ihr Herz wild klopfen.
Diese Nacht konnten beide nicht ruhig schlafen. Sie lagen jeder für sich im Bett und dachten über sich und den anderen nach.
Erna Ratzenow war auf dem Polizeirevier in der Neustadt keine Unbekannte. Die alte Frau wohnte alleine in einem Mietshaus in der Pappelstraße und war die Witwe eines vor einigen Jahren verstorbenen Polizeibeamten. Seit ihr Mann nicht mehr lebte, tauchte sie mindestens einmal in der Woche am Revier auf und plauschte mit den anwesenden Polizisten. Eine Polizeiwache war ein relativ öffentlicher Ort. Man konnte hineingehen, mit den Polizisten reden und sie auf etwas hinweisen oder sich einen Ratschlag holen. Sie waren eben nicht nur Freund und Helfer, sondern für Frau Ratzenow auch Mädchen für alles. Einige Jahre lang konnte sie auch noch auf einige Beamte treffen, die ihren Mann gekannt hatten. Aber auch die wurden stetig rarer, und bald gab es sie gar nicht mehr, da sie ebenfalls in den Ruhestand gegangen waren. Die jüngeren Polizisten fühlten sich zeitweise ganz schön von ihr genervt. Insbesondere, da sie in letzter Zeit immer wunderlicher wurde. Oder besser gesagt, zunehmend verkalkte und manchmal ein wenig orientierungslos war. Das führte häufig dazu, dass sich bei ihrem Erscheinen in der Wache alle schnellstens in den Aufenthaltsraum verzogen, und nur der Wachhabende noch anwesend war. Der konnte sich ja nicht verdrücken.
Aber Erna Ratzenow hatte auch ihre hellen Momente. Als sie heute in die Wache kam, war sie ziemlich aufgeregt. Die Frühschicht des Reviers war vollständig draußen im Einsatz, da es aufgrund einsetzenden Nieselregens mehrere kleine Verkehrsunfälle gegeben hatte, die es aufzunehmen galt. Der Regen hatte zwar schon wieder aufgehört, aber Nässe und Staub hatten die Straßen rutschig gemacht, und manches Bremsmanöver verfehlte sein Ziel. Der Wachhabende hatte alle Hände voll zu tun, seine Kollegen zu koordinieren und ihnen die erforderliche Hilfe auf der Straße zukommen zu lassen.
„Ja, der Abschlepper ist zu euch unterwegs!“ rief er ins Mikrophon seiner Funkanlage, und gleich darauf meldete sich eine andere Besatzung seiner Streifenwagen.
„Wir brauchen jetzt doch noch einen Rettungswagen. Der eine Fahrer hat plötzlich Schmerzen im Nacken festgestellt.“
Der Wachhabende drückte wieder den Sendeknopf des Funkgerätes. „Ja, kommt gleich!“
Dann griff er zum Telephon, wählte mit den Tasten die Feuerwehrzentrale an und orderte einen Rettungswagen zum Unfallort.
„Herr Wachtmeister!“ Erna Ratzenow lehnte sich mit den Unterarmen auf die Platte des Wachtresens. „Ich muss etwas Verdächtiges melden!“
Die auch noch, dachte sich der Wachhabende und stellte fest, dass Frau Ratzenow unangenehm roch. Er rollte auf seinem Bürosessel ein Stück nach hinten, um der Belästigung seiner Geruchsnerven zu entgehen.
„Ich kann ja nicht mehr so schnell einkaufen wie früher“, fuhr Frau Ratzenow fort. „Wissen Sie, die Beine machen nicht mehr so richtig mit, wenn ich schwer tragen muss. Und da hilft mir immer ein junger Mann aus unserem Haus. Der, der unter mir wohnt. Der ist zwar bestimmt Terrorist, aber nett.“
Über Funk meldete sich wieder eine der Streifenwagenbesatzungen. „Du kannst gleich den Doc aufs Revier bestellen. Einer der Beteiligten hat ne Fahne.“
Der Wachhabende bestätigte den Funkspruch und griff erneut zum Telephon. Bevor er wählte, wandte er sich Frau Ratzenow zu. „Frau Ratzenow, ich habe gerade alle Hände voll zu tun. Können Sie nicht heute Nachmittag wiederkommen? Dann ist vielleicht mehr Zeit für einen Plausch.“
Frau Ratzenow wollte protestieren, aber der Wachhabende hob mahnend und um Ruhe bittend die Hand. Dann hatte er den Vertragsarzt der Polizei an der
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