Wille zur Macht
zu essen, ohne Schwierigkeiten, es zu besorgen. Ein Staat, der ihm auch in schwierigen Lebenslagen noch eine Möglichkeit bot, zu existieren. Aber ihm wurde auch klar, dass sein Land ihm das alles nur bieten konnte, weil es die anderen Länder mit seiner Macht ausbeutete. Länder wie einst Nicaragua. Das galt es immer zu bedenken. So froh Christian Dunker auch war, in seine gesicherte Welt zurückzukehren, so deutlich war ihm auch geworden, wie schwierig der Weg in eine wirklich gerechte Welt noch sein würde.
Wie die Familie angekündigt hatte, stand ihr Auto gleich hinter der Grenze am Busbahnhof in West-Berlin. Schweigend in einen der Sitze auf der Rückbank des Vans versunken, verstand Christian Dunker, dass es nur ein Glücksfall war, in Deutschland geboren worden zu sein. Nichts, was er als etwas Selbstverständliches hinnehmen sollte. Zu Hause musste der Kampf weitergehen. Für eine gerechte Welt, für eine menschenwürdige Zukunft für alle Menschen.
„Du schnarchst!“
Dunker hing mit dem Kopf nach vorne in seinem Gurt, als eines der neben ihm sitzenden Kinder ihn anstieß. Für einen Moment war er völlig orientierungslos. Aber dann wusste er, wo er war. Er versuchte sich zu vergewissern, wie weit sie bereits vorangekommen waren. In einiger Entfernung sah er das Schild einer Autobahnausfahrt herannahen. „Oyten“ hieß die nächste Abfahrt.
„Wir sind gleich da!“ krakeelte der Familienvater am Steuer viel zu laut und Familieneuphorie auslösend. Dann fuhren sie kurz hinter dem Bremer Kreuz von der Autobahn ab und ins Zentrum der Stadt. In der Nähe der Sielwallkreuzung ließen sie ihn auf seinen Wunsch aus dem Wagen.
„Nochmals vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben. Mein Benzingeld stecke ich Ihnen in den Briefkasten. Ich habe ja Ihre Adresse.“
„Alles klar!“ erwiderte der Familienvater und hob lakonisch eine Hand zum Abschied. Dunker wusste, dass sein Tonfall bedeutete, dass er nicht daran glaubte, jemals das Benzingeld zu bekommen. Wahrscheinlich würde er seiner Frau diese Fehleinschätzung ewig vorhalten.
Das Erste, was Dunker tat, war, aus seiner Wohnung die zwanzig Mark zu holen, sie in einen Umschlag zu stecken und im Fehrfeld unter der vereinbarten Adresse einzuwerfen. Dann entschloss er sich, das erste Bremer Bier in der „Lila Eule“ einzunehmen. Er stellte dabei fest, dass ihm die heimische Welt jetzt ziemlich fremd vorkam. Die Oberflächlichkeit der ihn nun umgebenden Menschen erschreckte ihn. Sie kümmerten sich wahrscheinlich um gar nichts anderes in der Welt als um sich. Er würde es anders machen wollen.
Etwa zwanzig Jahre später
„Ich danke dir für diesen Abend“, sagte Mechthild Kayser und traute sich nicht, Fritz Behrmann in die Augen zu schauen. Sie standen vor Mechthilds Haus in der Humboldtstraße und wirkten beide sehr unbeholfen. Das war schon sehr ungewöhnlich für diese beiden Menschen. Mechthild Kayser war schließlich die Leiterin der Bremer Mordkommission und Fritz Behrmann niemand Geringeres als der Chef des hiesigen Erkennungsdienstes. Sie hatten gerade einen gemeinsamen Abend im „Kleinen Lokal“, einem kleinen, aber feinen Spitzenrestaurant der Stadt verbracht, dessen intime Atmosphäre beide erfasst und zu vorsichtigen zärtlichen Berührungen verführt hatte. Fritz Behrmann wusste, dass er mehr von Mechthild wollte als er sagen und zeigen konnte. Seit zwei Jahren, seit seiner Scheidung, hatte er keinen Kontakt mehr zu einer Frau gesucht, sich nur ganz männlich auf seine Arbeit gestürzt und dann plötzlich seine Zuneigung zu Mechthild Kayser gefühlt. Es war für ihn wie eine Erlösung, nach seiner großen Enttäuschung endlich wieder etwas für eine Frau zu empfinden, endlich wieder ein ganzer Mensch zu werden. Aber er wusste auch, dass die Chefin der Mordkommission als unnahbar und interessenlos an Beziehungen eingeschätzt wurde. Nachdem ihr arabischer Ehemann vor Jahren mit der gemeinsamen Tochter verschwunden war und ihr Aufenthaltsort nicht ermittelt werden konnte, hatte sich Mechthild Kayser von allen privaten Kontakten zurückgezogen und sich ausschließlich auf ihren Dienst konzentriert. Gemeinsam mit Behrmann hatte sie im vergangenen Jahr den ersten Serienkiller Bremens nach Gesche Gottfried mit enormem Einsatz zur Strecke gebracht. Das hatte sie näher zusammengeführt, und Fritz Behrmann hatte in der großen Sorge um Mechthild sein Gefühl für die Liebe wiedergefunden. Heute Abend war es ihm endlich gelungen, sie zu einem
Weitere Kostenlose Bücher