Wille zur Macht
des Gepäckterminals in einen kleinen Raum geführt. Es befand sich nur ein hölzerner Stuhl in der Mitte. Keine anderen Möbel, keine Fenster.
„Warten Sie bitte einen Augenblick“, sagte der Offizier und verließ mit seinem Untergebenen den Raum. Deutlich konnte Dunker hören, wie die Tür hinter ihm abgeschlossen wurde. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Er war verunsichert. Er traute sich nicht, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Er kam ihm wie ein Vernehmungsstuhl in einem schlechten Krimi vor. Und er wollte nicht vernommen werden, da es keinen Grund dafür gab. Wenn er sich setzen würde, sähe es so aus, als wenn er etwas zu gestehen hätte. Den Eindruck wollte er nicht erwecken. Er lief im Raum auf und ab, aber es tat sich nichts. Letztlich setzte er sich also doch hin. Der Stuhl war hart und unbequem. Seine Lehne stand zu weit nach vorne, so dass man beim Sitzen automatisch nach vorne gebeugt wurde. Dunker stützte seine Ellenbogen auf die Knie und sein Kinn in die Hände. Die Zeit verrann. Er dachte an seine Rückfahrgelegenheit und wusste, dass sie nicht auf ihn warten würden. Warum auch? Falls es so aussah, als wenn er hier verhaftet worden wäre, würde keiner der Mitreisenden aus dem Westen etwas mit ihm zu tun gehabt haben wollen. Den Mut nachzufragen hatten die meisten westlichen Touristen bestimmt nicht. Sie flogen nicht aus Solidarität mit der DDR über Ost-Berlin, sondern weil die Cubana sie billiger als andere Airlines zu ihrem Urlaubsziel brachte. Jeder von ihnen war froh, wenn er wieder aus der unberechenbaren DDR raus war.
Zwei Stunden schmorte er in dem kleinen Raum, bis er hörte, dass die Tür wieder aufgeschlossen wurde.
„Lieber Genosse“, trat ihm der Offizier von vorhin mit einem aufgesetzten Lächeln entgegen. „Die Unannehmlichkeiten für dich sind uns gerade vor dem Hintergrund, dass du als Brigadist im sozialistischen Nicaragua warst, sehr peinlich. Aber die Prager Genossen hatten dir einen falschen Transitstempel in den Pass gedrückt. Und du verstehst: Das mussten wir sofort überprüfen. Der imperialistische Feind ist nicht nur in der BRD allgegenwärtig.“
Dunker nickte stumm.
Der Volkspolizist reichte ihm brüderlich die Hand, händigte ihm seinen Pass wieder aus und zog ihn aus dem Raum durch die Gepäckhalle zur Passabfertigung.
Erstaunt stellte Christian Dunker fest, dass noch keiner der anderen Passagiere abgefertigt worden war. Sie standen mit ihren Koffern in einer langen Schlange vor dem Abfertigungsschalter. Alle hatten sie auf ihn warten müssen. Ein weiterer Volkspolizist kam mit dem Rucksack von Dunker angelaufen und übergab ihn an ihn. Fast mit militärischen Ehren. Dann begleitete der Offizier ihn durch die Passkontrolle und den Zoll. Auf eine befehlsartige Kopfbewegung des Offiziers wurden weder sein Pass noch sein Gepäck kontrolliert. Er marschierte einfach so durch die Kontrollstellen, bis er vor dem Flughafengebäude stand, vor dem schon der Bus nach Westberlin wartete.
„Gute Heimreise!“ wünschte ihm der Offizier der Volkspolizei, drückte ihm ein Ticket für den Bus in die Hand und schüttelte Dunker noch einmal kräftig die Hand. „Willst doch jetzt endlich wieder nach Hause. Kann ich gut verstehen!“
Gleich gibt’s noch einen Bruderkuss, dachte Dunker, aber so weit kam es dann doch nicht. Der Offizier verschwand, und er stieg in den Transitbus nach Westberlin. Jetzt musste er warten. Auf die Familie, die ihn mit zurücknehmen wollte.
Als diese endlich in den Bus einstieg, fragte der Familienvater argwöhnisch, was denn losgewesen sei. Dunker wollte ihn auf keinen Fall verschrecken. Die Rückfahrgelegenheit war zu wichtig.
„Die Tschechen hatten mir einen falschen Transitstempel verpasst“, erwiderte er. „Dann kriegen die Vopos natürlich gleich ne Krise.“
„Ja, so ist das in einem Arbeiter- und Bauernstaat. Wenn nur die Bauern an der Grenze arbeiten!“ antwortete der Familienvater und lachte.
Arschloch, dachte Dunker. Aber den preiswerten Urlaub der Sozialisten nimmst du gern in Anspruch. Und machst dabei wahrscheinlich noch den großen Macker, weil sie auf deine Devisen angewiesen sind.
Aber sagen wollte er jetzt lieber nichts. Seine günstige Mitfahrgelegenheit wollte er nicht verlieren. Er dachte daran, nach Hause zu kommen, in seine Heimatstadt, nach Bremen. Jetzt kam ihm zu Hause alles so reich vor. Selbst seine kärgliche Existenz bot ihm ein friedliches Dach über dem Kopf. Warmwasser ohne Einschränkung. Genügend
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