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Wille zur Macht

Wille zur Macht

Titel: Wille zur Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Schlosser
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irgendeinem Zusammenhang mit der Klingelanlage stand, wusste Ayse nicht. Aber das Licht auf dem Flur ging ebenfalls nicht mehr. Im Halbdunkel stieg sie müde die Stufen in die erste Etage zu ihrer Wohnung hoch. Als sie die Tür hinter sich schloss, fiel von ihr unbemerkt ein Briefumschlag auf den braunen Teppichboden im Flur. Im Wohnzimmer ließ sie sich sofort auf ihr rotes Sofa fallen, warf die Post auf den Tisch vor sich und begann, ein Couvert nach dem anderen zu öffnen. Nichts wirklich Interessantes bot sich ihr. Hauptsächlich Angebote von Kreditvermittlern, die einem versprachen, jetzt endlich seine geheimsten materiellen Wünsche zu besten Konditionen verwirklichen zu können. Und ein Schreiben von der Haftpflichtversicherung mit dem Beleg für die Steuererklärung.
    Ayse warf alles zurück auf den Tisch. Sie suchte nach der Fernbedienung für den Fernseher, als es an ihrer Haustür klopfte. Sie stutzte einen Moment, aber dann fiel ihr ein, dass die Klingelanlage ja kaputt war.
    „Ich komme!“ rief sie laut Richtung Haustür. Dann ging sie ohne Eile auf den Flur. Hier im Steintor war es nicht ratsam, seine Haustür gleich zu öffnen. Immer wieder standen irgendwelche schrägen Typen vor einem, die man nicht so leicht wieder loswerden konnte. Einmal hatte Ayse sogar einen überaus aufdringlichen Zeitungsverkäufer einer Drückerkolonne die Treppe hinunterschubsen müssen, und erst, als sie ihm ihren Dienstrevolver unter die Nase hielt, machte er sich schimpfend davon. Leider hatte ihre Wohnungstür keinen Spion.
    „Ja, wer ist da?“ fragte sie deutlich. Auf eine Antwort wartend entdeckte sie den heruntergefallenen Brief auf dem Boden und bückte sich nach ihm. Im gleichen Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Über ihrem gebeugten Körper zerbarst das Holz ihrer Wohnungstür, und ein Hagel kleiner Holzsplitter schoss über ihrem Rücken durch den Flur und verteilte sich auf dem Boden. Putz staubte auf. Ayse ließ sich sofort auf den Boden fallen, drückte sich so flach wie möglich nieder, und schon krachte es ein zweites Mal. Starr vor Angst blieb sie liegen. Sie wusste nicht, was über ihr gerade geschah und was noch kommen würde. Sie war der Situation hilflos ausgeliefert. Vor Angst hatte sie die Augen fest geschlossen.
    In der Wohnungstür war auf Brusthöhe ein Loch mit zackigem Rand aus zerfetztem Holz entstanden. Kurz spähte ein Augenpaar durch die Öffnung, sah durch den eingeschränkten Blickwinkel Po und Beine von Ayses ausgestrecktem Körper regungslos auf dem Boden liegen und verschwand dann sofort wieder. Ayse hörte jemanden die Treppenstufen vor ihrer Wohnung hinunterhasten. War das die Entwarnung? Sie traute sich noch nicht, sich zu bewegen, aber ihr Verstand kam langsam wieder dazu, die Situation einzuschätzen. Sie zwang sich, ihre Augen zu öffnen. Ganz klar: Das waren zwei Schüsse gewesen. Auf sie. Auf die Kriminaloberkommissarin Ayse Günher. Ein Anschlag. Ein Mordversuch. Zitternd rappelte sie sich auf und setzte sich auf den Fußboden. Sie sah nach oben und auf das große, vom Schuss gefressene Loch in ihrer Tür. Sie sah ans andere Ende ihres Flures. Auf der hinteren Wand war ein gesprenkeltes Muster aus vielen kleinen Einschlägen auszumachen. Schrot, dachte Ayse. So sieht Schrot aus. Langsam entspannte sie sich wieder. In ihrer Hand spürte sie den Briefumschlag, den sie aufgehoben hatte. Ohne darüber nachzudenken, riss sie ihn auf. Der Kontoauszug ihrer Lebensversicherung. Eingezahltes Kapital, Überschussbeteiligung, Auszahlung im Todesfall. Dieser besondere Zusammenhang wurde ihr zwar klar, aber sie brachte nicht mal ein ironisches Lächeln zustande. Noch einmal atmete sie tief durch. Dann riss sie sich zusammen, aktivierte ihre Kräfte und eilte ins Wohnzimmer zum Telephon. Und als sie die Einsatzleitstelle dran hatte, war sie wieder ganz Polizistin. In kurzen, prägnanten Sätzen, als wenn sie selbst nicht betroffen wäre, schilderte sie den Vorgang, der sie fast das Leben gekostet hatte, wies gleich darauf hin, dass es keine Täterbeschreibung gäbe, eine allgemeine Fahndung aber auszulösen wäre, da eine Schrotflinte nicht so leicht zu verbergen war. Zumindest, wenn der Täter zu Fuß unterwegs sein sollte. Und dann ging alles seinen Lauf.
    Eine halbe Stunde später war Mechthild bei ihrer Freundin. Sie nahm sie mit zu sich in die Humboldtstraße. In ihrer Wohnung konnte Ayse jetzt sowieso nicht mehr bleiben. Ein Team des ED hatte die umfangreiche

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