Wille zur Macht
Spurensicherung übernommen, und hinter der zerstörten Tür würde Ayse auch keine Ruhe mehr finden können. Zuhause bei Mechthild löste sich endlich der tief in Ayse sitzende Schock. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, während Mechthild sie fest im Arm hatte und ihr beruhigend den Rücken streichelte. Mechthild hatte angeordnet, dass ihr jedes Ergebnis der Fahndung sofort mitgeteilt werden sollte. Aber ihr Telephon schwieg die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen nahm sich Mechthild lange Zeit, um mit ihrer Freundin zu frühstücken. Ayse hatte sich nach dem Duschen wie neugeboren gefühlt und lehnte den Vorschlag ihrer Freundin, den Polizeipsychologen für ein Gespräch hinzuziehen, rigoros ab. „So etwas brauche ich nicht. Da mach dir mal keine Sorgen!“ Ihr alter Kampfgeist war schon wieder in sie eingezogen. Dennoch entschied Mechthild, ihre Freundin im Auge zu behalten. Ein solches Geschehen konnte einen Menschen leicht traumatisieren und plötzlich und unverhofft einholen.
Als die beiden das Haus verließen, fiel Mechthild auf dem gegenüberliegenden Parkstreifen ein Wohnmobil auf. Erst dachte sie erfreut, es würde sich um das von Fritz Behrmann handeln, aber dann stellte sie fest, dass es ein anderes war. Hinter dem Seitenfenster sah sie von einer Gardine leicht verborgen einen Mann sitzen. Merkwürdig, dachte sie sich. Warum setzt sich ein Mann frühmorgens in sein Wohnmobil? Aber sie verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.
Die Nachricht von dem Mordversuch an Ayse hatte das ganze Polizeipräsidium in Aufruhr versetzt. Auch die Tageszeitungen hatten noch am Abend ihre Headline umgesetzt, als sie von diesem Ereignis erfuhren. Einen solchen Vorfall hatte es seit Kriegsende noch nie in Bremen gegeben.
Als Mechthild und Ayse ins Besprechungszimmer kamen, war neben den anderen Ermittlern auch Kurt Roder schon am Tisch. Nach der Begrüßung ihrer Kollegen übergab Mechthild gleich Roder das Wort. Sie wollte wissen, wie er den Vorfall einschätzte. Roder gab sich sehr besorgt und war deutlich ruhiger als am Vortag.
„Der Anschlag auf Frau Günher kann meiner Ansicht nach nicht getrennt von ihren Ermittlungen gesehen werden. Möglicherweise besteht doch ein Zusammenhang zwischen dem Verdächtigen aus Riga und der rechten Szene. Ich möchte das jetzt nicht mehr von der Hand weisen. Wir wissen ja alle, dass die rechtsextremen Kräfte ihr Augenmerk besonders auf die Vertreibung von Ausländern legen. Übergriffe, Anschläge und Bedrohungen dienen ihnen dazu, sogenannte ausländerfreie Zonen zu schaffen. Den Mordanschlag auf Frau Günher sehe ich in diesem Zusammenhang. Wir haben schon den Verfassungsschutz gebeten, uns über mögliche Erkenntnisse zu informieren.“
Diesmal musste Mechthild ihm zustimmen.
Roder fuhr fort: „Die Letten haben schnell reagiert und Bruninieks festgenommen. Er wird noch heute mit der Elf-Uhr-Maschine in Bremen eintreffen.“
Mechthild war erstaunt. „Dann können wir ihn ja heute noch vernehmen!“
„Wohl erst morgen“, schränkte Roder ein. „Ich habe mir mit dem Einverständnis des PP erlaubt, Ihnen die Formalitäten für die Festnahme abzunehmen. Erst gibt es eine Vorführung beim Haftrichter, und dann wird er in die Untersuchungshaft überführt. Aber morgen können Sie ihn sich vornehmen.“ Dann verabschiedete sich Roder schnell.
Mechthild war nicht wirklich erfreut darüber, dass er die Festnahme abwickeln würde. Aber zurzeit wollte sie mit dem Polizeipräsidenten nicht schon wieder aneinandergeraten. Also konzentrierte sie sich mit ihren Leuten auf die anstehende Vernehmung des Verdächtigen. Mit Respekt stellte sie fest, dass Harald Strehlow an der Polizeihochschule gut aufgepasst hatte. Er machte eine Reihe sehr kluger Vorschläge, wie sie Bruninieks aus der Reserve locken konnten. Mechthild entschied, ihn an der Vernehmung teilnehmen zu lassen und verbannte die anderen vor die Lautsprecher hinter das Fenster des Vernehmungszimmers. Während Peer Souton sich zurückhielt, protestierten Ayse und Heller gegen diese Entscheidung. Aber Mechthild ließ sich nicht beirren. Ein Teil ihrer Taktik basierte darauf, dass Bruninieks glauben sollte, er hätte es mit Anfängern zu tun. Eine gute Grundlage, um dann eine knallharte Verunsicherung einzuläuten.
Abends, als Mechthild nach Hause zurückkehrte, stand das Wohnmobil noch immer gegenüber ihrem Haus. Aus purer Neugierde holte sie sich ihr Fernglas aus dem Schreibtisch, löschte das Licht und
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