Wille zur Macht
Anstalten zu gehen. Sie verharrte noch einen Moment. „Soll ich bezahlen?“
„Nein, alles Spesen der taz. Ich hoffe, gut angelegte Ausgaben!“
Mechthild griff sich die kleine Box mit den Dias und eilte zu ihrem Fahrrad. Aus den kleinen Lautsprechern auf der Terrasse klang leise „Games people play“ von Joe South. Aber davon bekam Mechthild nichts mit. Sie war zu sehr mit der Frage beschäftigt, wie es denn nun weitergehen sollte. Ein paar Dias, ja und? Vor zwanzig Jahren aufgenommen. Und jetzt sollten sie möglicherweise ein Schlüssel zur Lösung des Falles sein? Das hörte sich sehr unwahrscheinlich an. Doch es gab ja auch etwas Positives zu vermelden: Es war Mechthild mit der Hilfe von Haschner gelungen, endlich einen Kontakt aus der näheren Umgebung Christian Dunkers herzustellen. Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie weiterhin mit Sigrid Janssen rechnen konnte. Aber immerhin. Es war ein kleiner Schritt vorwärts. Für den Rückweg nahm Mechthild die Fähre am Café Sand. Das war schneller als den ganzen Weg über die Weserbrücke zurückzulegen. Und sie wollte unbedingt erst noch nach Hause. Zähneputzen, Wäsche wechseln. Aber auch einen Blick auf die Dias werfen. Bis zur Einmündung der Humboldtstraße marterte sie ihr Gehirn mit der Frage, wo sie denn den alten Diaprojektor gelagert hatte. Kein Mensch nutzte so etwas mehr, seit man alles mit Digitalkameras aufnahm und in Computern abspeicherte und, falls man seine Photos anderen zeigen wollte, sie mal eben auf eine CD brannte. Aber sie besaß noch einen. Sie konnte sich bei einer sich anbietenden Gelegenheit nicht dazu durchringen, ihn wegzuschmeißen, da sie noch viele Dias hatte, auf denen ihre Tochter Anna war. Sammy photographierte nach Annas Geburt immer noch mit einer herkömmlichen Spiegelreflexkamera.
Als Mechthild ihr Haus erreichte, war von dem Wohnmobil weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie rannte ins Haus, und als sie in ihrem Keller den Kunststoffkoffer mit dem Projektor fand, spürte sie, dass er nur noch vorhanden war, weil sie die Möglichkeit nicht ausschließen wollte, einmal die Bilder ihrer verschwundenen Tochter anzuschauen. Aber sie hatte es sich nie getraut. Mechthild hatte Angst vor der großen Trauer, die sie hätte überkommen können. Sie verdrängte ihre aufkommenden, traurigen Gedanken und brachte den Projektor in ihrem Wohnzimmer in Stellung. Sie hängte ein Bild von der weißen Wohnzimmerwand gegenüber ab und zog die dicken rosa Samtvorhänge zu, die noch von ihrer verstorbenen Tante stammten. Als das Licht des Projektors den Raum erhellte, sortierte Mechthild die wenigen Dias in einen Kasten ein und schob diesen in das Gehäuse. Mehrfach klickte der Apparat, als er den Kasten nach vorne zog und ein weißes Bild nach dem anderen an die Wand warf. Dann kamen die Bilder. Das, was es zu sehen gab, war genau das, was Sigrid Janssen angekündigt hatte: Auf allen Dias war ein Mann zu sehen, augenscheinlich ein Europäer. Mal auf einem Pferd mit einer Waffe auf dem Rücken, mal auf einer Terrasse vor einer einfachen Holzhütte sitzend. Aber auf dem letzten Dia war er zu sehen, wie er eine Frau vergewaltigte. Mechthild ging sofort von einer Gewalttat aus, denn in der Vergrößerung des Dias war zu sehen, dass das Gesicht der Frau blutverschmiert war. Und sie hatte wahrlich einen gequälten Gesichtsausdruck. Der Mann, der zwischen ihren gewaltsam auseinandergedrückten Schenkeln stand und sie so misshandelte, lachte. Ekelhaft, dachte Mechthild und schüttelte den Kopf. Aber die Tat war zwanzig Jahre her, sie geschah in Mittelamerika, eine Anzeige lag nicht vor. Also: Was zum Teufel sollte sie mit diesen Bildern tun? Sie fand keine Antwort und schaltete den Projektor aus. Es war Zeit, endlich im Büro aufzutauchen. Sie ging ins Badezimmer, duschte und frisierte sich, zog sich hektisch an und machte sich mit dem Fahrrad auf den Weg ins Polizeipräsidium.
Dort wurde sie schon sehnsüchtig von ihren Kollegen erwartet. Fritz Behrmann war noch immer damit beschäftigt, penibel jede kleine am Tatort gesicherte Spur aus Christian Dunkers Wohnung zu erläutern, seine angewandten kriminaltechnischen Untersuchungsmethoden darzustellen und somit dem Wunsch von Mechthild entsprechend den ganzen Ermittlerkreis zu beschäftigen. Allerdings hörte mittlerweile kaum mehr einer zu. Als Mechthild das Besprechungszimmer betrat, ging ein Aufatmen durch die Runde. Und auch Fritz Behrmann war froh, endlich mit seinem Vortrag enden zu
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