Willenlos
Zeit.«
Bornmeier unterstützte die Antwort mit beiden Händen. Florenz List hob die Mundwinkel.
»Nein, es ist der Satz, den sie sagen sollen: Ich muss Sie in dieser Frage um ein wenig Geduld bitten.«
Daniel schrieb den Satz gut lesbar auf eine Tafel aus stabiler Pappe und brachte sie in den Nebenraum. Eine Minute später las Nummer eins den Satz vor, reichte die Tafel danach an seinen Nebenmann weiter. Bartram gab die Tafel sofort weiter, drückte das Kreuz durch, hielt den Blick geradeaus auf die Scheibe gerichtet und sagte den Satz klar und deutlich. Nachdem auch Nummer fünf die Aufgabe erfüllte hatte, richteten sich vier Augenpaare gespannt auf Florenz List.
»Die Stimme hat eine gewisse Ähnlichkeit. Vielleicht eine Nuance zu tief.«
Joshuas Anspannung wich. Viel zu früh, List hatte noch einen weiteren Wunsch.
»Um wirklich sicher zu sein, möchte ich Sie bitten, die Nummer vier ganz dicht an die Scheibe treten zu lassen.«
List trat ebenfalls dicht an die Scheibe. Die beiden Männer trennte nur wenig mehr als die Breite einer Hand. List war die Anspannung anzusehen. Nach wenigen Sekunden trat er beinahe erleichtert zurück.
»Der Mann, der mir gegenüber saß, hatte ein Muttermal neben der Nase. Dieser Herr nicht. Da auch die anderen Merkmale nicht genau übereinstimmen, bin ich mir sicher: Der Täter befindet sich nicht unter diesen Männern.«
List antwortete mit derselben Überzeugung, mit der Galileo Galilei damals vor die Inquisitoren der Heiligen Kirche getreten war und behauptet hatte: ›Und sie dreht sich doch.‹ Die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Dr. Klumm ein piepsiges »Ja« hervorbrachte, zeichnete sich auf den Gesichtern der anderen eine leichte Blässe ab. Staatsanwalt Bornmeier hätte List am liebsten zugerufen, er möge es sich noch einmal überlegen, immerhin ginge es auch um seinen Kopf. Eine solche Einflussnahme hätte aber die Aussage Lists mit einem Schlag wertlos gemacht.
Die Enttäuschung zog in jede Faser seines Körpers, gleichzeitig fühlte Joshua Bewunderung für den Richter. Selbst mit dem Hals in der Schlinge, die Tage und Nächte unschuldig im Gefängnis verbringend, bewahrte sich List den Drang nach Gerechtigkeit. Joshua hatte während einer Gegenüberstellung noch niemals einen Zeugen erlebt, der sich so große Mühe gemacht hatte. Seine Gefühle waren gemischt. Einerseits respektierte er die Aussage des Richters, andererseits konnte er sich nicht mit der bitteren Erkenntnis anfreunden, wieder am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Als der Vorhang erneut aufgezogen wurde, machte Joshua sich wenig Hoffnung. Die Strafprozessordnung schrieb einen zweiten Durchgang mit vertauschten Positionen und Nummern vor, allerdings dürfte sich zumindest der Richter dadurch in seiner Entscheidung kaum beeinflussen lassen. Während Frau Kluge zunächst wieder die Nummer vier, diesmal ein Kollege vom KK 13, favorisierte, blieben die anderen Zeugen bei ihrer Aussage. Florenz List benötigte nur wenige Sekunden, ehe er seine Aussage wiederholte. Mit hängenden Schultern bedankte Joshua sich bei den Zeugen.
Chris Diergarten von der Drogenfahndung, einer der Kollegen mit entfernter Ähnlichkeit zu Bartram, betrat den Raum.
»Und, bin ich verhaftet?«
»Beinahe«, antwortete Joshua lakonisch.
»Wollte nur Bescheid geben, wir haben den Diebstahl der Dormicumbestände aus dem Essener Klinikum aufgeklärt. Das Zeug wurde einem unserer verdeckten Ermittler angeboten. Von da an war’s einfach, waren Amateure.«
»Ja, danke.«
»Die KT hat sich bei uns gemeldet, ihr habt denen eine Packung gebracht. Sie stammt nicht aus dem Diebstahl in Essen.«
»Wäre auch zu schön gewesen.«
Joshua fiel auf, dass sie immer noch nichts über die Beschaffung des Narkotikums herausbekommen hatten. War es Bartram nach 15 Jahren überhaupt noch möglich, in den Besitz eines solchen Medikamentes zu gelangen?
41
Leon Bartram war in der Nacht ausgebrochen. Niemand hatte Joshua benachrichtigt. Ohne die geringste Ahnung, in welcher Gefahr er schwebte, hatte er in dem kleinen Wäldchen bei Krefeld angehalten. Eine halbe Stunde später, er hatte die Hände aufs Autodach gestützt, Dehnübungen gemacht, stand plötzlich Jack Holsten hinter ihm. Der Blick schien der Welt entrückt. Joshua wollte eine Frage stellen, in diesem Moment hob Jack den rechten Arm. Entsetzt sah Joshua auf die glänzende Klinge des Fleischermessers. Irgendwo aus der Ferne drang
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