Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Weile verfolgte: Ein Regenwald, so faszinierend er auch sein mag, ist dennoch nur ein Wald.
Das ist nicht so geistlos, wie es klingt. Die Legende vom Dschungel ist so mächtig und derart aufgeladen mit dem Wert der Artenvielfalt und dem Lunge-des-Planeten-Ding, dass wir darüber ganz vergessen, was ein Amazonasregenwald mit einem stinknormalen nordamerikanischen Wald gemeinsam hat: das Waldsein. Doch der Regenwald unserer Träume hält sich hartnäckig – ein Ort, der mit Mythen und Legenden überwuchert ist, mit schwülen Geschichten über Entdecker und geheimnisvollen Berichten von Stämmen, die noch nicht mit der Zivilisation in Berührung gekommen sind. Fast erwartet man, er müsse aus Jade sein.
Das gilt auch, wenn der Mythos negativ ist. Werner Herzog erklärte in einem großartigen Interview während der Dreharbeiten zu seinem Film Fitzcarraldo, der Dschungel sei voller »Elend«, die Vögel sängen nicht, sondern schrien vor Schmerz und der Regenwald sei eine obszöne, entsetzliche Welt. Doch damit zeigte Herzog sich nicht weniger sentimental als Kathleen Turner in ihrer atemlosen Suche nach einem riesigen Edelstein in Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten – ganz zu schweigen von Michael Jacksons Earth Song. James Camerons Avatar schließlich ist die ultimative Verherrlichung des Dschungels als magischem Ort. Die Geschichte des Films ist so unglaublich herablassend gegenüber denen, die im Wald leben, dass der Regisseur sie nur als Science-Fiction getarnt zeigen konnte.
Das Sonnenlicht in diesen Filmen muss immer in verführerischer Weise den Wald durchdringen, ein Leopard oder eine riesige Spinne – vielleicht auch ein attraktiver blauer Außerirdischer mit Brüsten – lauert hinter jedem Busch und jeder Schritt muss mit einer Machete erkämpft werden, die sich durch die saftigen Blätter von etwas atemberaubend Grünem schneidet. Ständig zischen Giftpfeile aus Blasrohren, Blutegel beißen sich an Beinen und Bäuchen fest. Und, nicht zu vergessen, die Piranhas, immer Piranhas, die darauf warten, dass ein vorwitziger Zeh in einen Fluss getaucht wird. Das ist kein Dschungel – es ist ein gefährlicher Garten Eden.
Mag sein, dass andere Gegenden des Amazonasregenwalds so sind, aber hier war er in erster Linie ein Wald mit Bäumen, Blättern, Erde und Tieren. Und in diesem Fall hatte er einen Besitzer. Vor allem aber einen Badeteich. Nun begriffen Adam und ich endlich, was Rick mit seinem Herumblödeln gemeint hatte. Das Schwungseil.
Der Badeteich befand sich ganz in der Nähe der Hütte, wo ein Bach – ein Zufluss des Zuflusses des Zuflusses des mächtigen Amazonas – in ein breites, von Bäumen umstandenes Becken sprudelte. Eine kleine Schwimmplattform war ins Wasser gebaut worden.
Die Amerikaner hatten ihre Badehosen dabei, die Brasilianer ihre Unterhosen. Nachdem die unvermeidlichen Piranha-Witze gerissen worden waren, hechteten wir ins Wasser. Rick kletterte mit dem Seil in der Hand auf den Stamm eines gestürzten Baums. Er ließ den Blick über sein Königreich schweifen … und sprang. In Surfershorts und mit wehender grau-blonder Lockenmähne zog dieser Tarzan-auf-dem-zweiten-Bildungsweg einen prachtvollen Bogen.
Wenn irgendetwas an dem Bogen auszusetzen war, dann höchstens, dass er etwas zu prachtvoll war, denn Rick schwang über die Schwimmplattform, und ich fürchtete für einen Moment, er werde sich das Genick brechen. Doch der Dschungelkönig aus Michigan zog bloß eine erstaunte Grimasse, als er die Plattform unter sich vorbeiziehen sah, und schwang dann fest an seine Liane geklammert zurück, die Füße schleiften durch das Flüsschen. Dort erst ließ er los und plumpste unelegant ins Wasser.
*
Wir befanden uns auf einer Insel in einem Meer aus Soja. Am Rand von Ricks Wald ging dieser in eine Fläche mit trockener Erde über, wo wir uns umsehen wollten.
Noch war keine Saatzeit. Die Hitze waberte über der bröckeligen Erde. Drei Silos standen in der Ferne. Gil tänzelte vor und zurück und drehte Videos mit seinem iPod touch. Rick wies auf den grünen Streifen entlang des Feldes. Die Grenze seines Waldes. Er besaß ihn seit zehn Jahren.
»Das ganze Vierhundert-Hektar-Sojafeld war früher einmal Wald«, sagte er. »In einem Jahr kam ich hier mit ein paar Leuten vorbei und da lagen immer noch große Stapel mit brennenden Baumstämmen. Sie haben diesen Teil einfach herausgeschnitten.«
Nicht nur auf den Kleinbauern hatte der Druck zu verkaufen gelastet, den spürte
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