Willkommen im Totenhaus
du das nachvollziehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sei froh, daß du lebst.«
»Du bist doch auch nicht tot, Roy.«
»Aber so gut wie.«
Kelly war überfordert. Sie wischte mit den Handflächen über ihre Hosenbeine. Der bittende und zugleich ängstliche Blick ihres Freundes wollte von ihrem Gesicht einfach nicht weichen, aber sie konnte auch nichts tun oder sagen. Ihr fehlten einfach die richtigen Worte, um ihm Mut zu machen.
Plötzlich stellte er eine Frage, die Kelly überraschte. »Du denkst an Simon, wie?«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich sehe es dir an. Du und Simon, ihr seid doch dick befreundet gewesen.«
»Ja, das stimmt. Ich weiß nicht, was mit ihm ist. Du hast ja nichts erzählt.«
Als würde ihm die folgende Antwort Spaß machen, so verzog Roy Walker das Gesicht. »Simon ist verschwunden. Wir alle sind verschwunden. Das Haus hat uns geholt.«
»Wie denn?« schrie Kelly ihn an.
»Es lebt. Es hat eine verdammte Seele, die überall ist. In den Wänden, in der Decke, im Boden. Sie ist da, und wird auch bleiben. Es gibt keinen, der das Böse töten kann. Das solltest du dir merken, Kelly. Keinen.«
»Zwei versuchen es!«
»Sie werden scheitern. Das Haus frißt alle. Mich hat es geholt. Bernie wurde geschluckt und Simon…«
»Nein!« brüllte Kelly ihn an. »Nein, verdammt noch mal. Sag das nicht!« Kelly hob ihre Hand an, als wollte sie Roy ins Gesicht schlagen. »Du hast selbst gesagt, daß du weder Simon noch Bernie gesehen hast. Da kannst du nicht behaupten, daß er…«
»Was soll denn sonst mit ihnen geschehen sein? Sie sind gefressen worden. Mir hat Graystone Hall die Beine genommen und sie in den verfluchten Schlamm verwandelt. Vielleicht haben sie mit Simon und Bernie etwas anderes gemacht? Wäre doch möglich. Sie können ihnen die Köpfe genommen haben, die Oberkörper oder…«
Klatsch!
Kelly hörte das Geräusch und bereute es noch im gleichen Moment, zugeschlagen zu haben. Aber Roys Worte hatten sie tief getroffen und so stark verletzt, da hatte sie einfach rot gesehen und sich nicht mehr zurückhalten können.
Der Kopf des jungen Mannes war zur Seite gedrückt worden. Für einen Moment hatte sich sein Gesicht verzerrt, aber dieser Ausdruck verschwand wieder, als Roy die neben ihm kniende Kelly anschaute.
Sie atmete heftig. »Es tut mir leid, Roy. Verflixt, es tut mir so leid. Ich konnte nicht mehr anders. Ich wollte es ja nicht. Ich weiß ja, wie es dir geht – ehrlich. Und jetzt…«
Da kicherte er wieder. Das eklige Lachen, das er auch jetzt nicht hatte abstellen können. Diesmal berührte es sie nicht, und Roy beruhigte sich bald. Er kam wieder auf das Haus zu sprechen und redete davon, daß es in absolute Finsternis gehüllt war. »Du siehst nichts. Du kannst auch nicht durch die Fenster schauen. Ich weiß nicht einmal, ob es Zimmer gibt. Ich habe keine Türen gesehen und auch keine ertasten können. Es ist wahnsinnig dunkel geblieben, aber der Geruch war da und auch die Geräusche.« Roy verzog seinen Mund. Speichel tropfte an seiner Unterlippe entlang, und Roy fragte: »Weißt du eigentlich, wie die Toten riechen, Kelly?«
»Nein. Ich will es auch nicht wissen!«
»Du brauchst nur in das Haus zu gehen. Da kannst du sie riechen. Ein alter Leichengestank. Verwesende Körper, die überall sind. Sie stecken in den Wänden und sind überall. Oben und auch unten. Da lauern sie und warten auf Beute. Glaube nur nicht, daß sie alle verschwunden sind. Nein, Kelly, das Haus lebt in sich. Es ist gar kein Haus, es ist ein lebendes und zugleich untotes Gebäude.«
»Ich will nichts mehr hören!«
»Kann ich mir denken!«
Kelly drohte ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger. »Wenn du noch ein Wort sagst, lasse ich dich allein.«
»Na und? Du kannst mir nicht helfen. Ich bin nur noch ein halber Mensch. Ich lebe durch die Toten. Ich bin ein Stück des Hauses, Kelly, verstehst du?«
»Nein, das bist du nicht. Sonst wärst du nicht hier.«
»Es ist überall. Es hat mich ausgespuckt, aber es wird mich zurückholen. Graystone Hall braucht mich. Ich bin zu einem Teil von ihm geworden. Du kannst sagen, was du willst. Nicht ich habe unrecht, sondern du.«
»John Sinclair und Suko werden Graystone Hall bekämpfen und…« Kelly erschrak, denn sie hatte in das Gesicht ihres Freundes geschaut und die Veränderung erlebt. »He, was ist los?«
Roy Walker hatte den Mund weit aufgerissen, als wollte er ein plastisches Beispiel für einen stummen Schrei abgeben. Seine Arme streckten
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