Willkommen im Wahnsinn: Roman (German Edition)
Rose angelangt. Das weiß ich noch. Lulu entschied, sie würde mein Leben ändern und mich zwingen, die Kontrolle zu verlieren oder irgend so was. Und – autsch, mein Kopf, ich sollte nicht versuchen, mich aufzusetzen – wie ich mich entsinne, habe ich tatsächlich zugestimmt. Puh, gerade wirkt sich die Macht des Weines auf meinen leeren Magen aus. Dann taumelten wir aus der Bar, und ich muss wirklich betrunken gewesen sein, denn irgendwie bilde ich mir ein, in jenem Moment wären wir zu dritt gewesen. Vage erinnere ich mich, dass ich schwarze Metallstufen runtergerutscht und vor den Füßen eines riesigen (und völlig unbeeindruckten) Türstehers einer Karaoke-Bar in der Poland Street gelandet bin. Unter der Steppdecke inspiziere ich meinen rechten Schenkel. O ja – hübsche, farbenfrohe Flecken bezeugen das Manöver.
Wie ich mich erinnere, hat der Türsteher uns nicht reingelassen, zweifellos wegen meiner gymnastischen Darbietung. Danach wird’s verschwommen, und so wende ich die einzige Taktik an, die einem Gedächtnisschwund entgegenwirkt. Man muss einen Abend anhand von Quittungen rekonstruieren. Am Boden neben dem Bett liegt meine Handtasche.
Vorsichtig greife ich danach. Inhalt: drei Zwanziger und mehrere Bons.
Geldautomat um halb zwölf, hundert Pfund. Ach ja, das Stadium eines fröhlichen Abends, in dem man sich großzügig und steinreich fühlt. Ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass ich erst in einer Woche mein Monatsgehalt kriege.
Eine Rechnung vom Kettner’s um Mitternacht – eine Flasche Champagner. Was haben wir gefeiert?
Eine Taxiquittung. Gott sei Dank, wenigstens hat mein Selbsterhaltungstrieb funktioniert und mich wohlbehalten nach Hause gebracht.
Und ganz unten in meiner Tasche eine zerknüllte Cocktailserviette. Ich falte sie auseinander und streiche sie auf meinem Kissen glatt. Ah, eine große, schwungvolle Handschrift – meine eigene, stelle ich fest, und der Text erfüllt mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Unbehagen.
Ich, Lizzy Harrison, vertrete hiermit ebenso wie Lulu Miller die Ansicht, ich sollte in Zukunft öfter die Kontrolle verlieren. Weil ich in letzter Zeit viel zu verklemmt bin und Lulu weiß, was am besten für mich ist.
Als ich genauer hinschaue, sehe ich, dass der zweite Satz in Lulus Handschrift auf der Serviette steht.
Gefolgt von meiner gekritzelten Unterschrift, ein bisschen befleckt von – Champagner? Tränen?
Und daneben eine krakelige Handschrift. Zeuge: Laurent Martin.
Laurent – wer?
Der Franzose in der Bar. Der Le-Monde- Leser, dem Lulu in den Schoß gefallen ist? Wieso ist er mit uns ins Kettner’s gegangen? So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich
nicht an das Ende des Abends erinneren. Aber Kater hin, Kater her, meine Morgenroutine ist zu fest in mir verankert. Davon kann ich unmöglich abweichen, und so zwinge ich mich, aus dem Bett zu steigen. Das frühe Erwachen verschafft mir genug Zeit, und ich bekomme mich in den Griff. Zugegeben, mein morgendliches Jogging ist nur eine müde Wanderung durch den Peckham Rye Park. Mit vielen Ruhepausen. Mein übliches Eiweißomelett verwandelt sich in ein Sandwich mit Spiegelei. Trotz allem stehe ich pünktlich an meiner gewohnten Stelle auf dem Bahnsteig. Allerdings war eine Flasche Ginger Beer nötig, damit ich in den Waggon steigen konnte, ohne dass mir schlecht wurde.
Um halb neun sitze ich an meinem Schreibtisch. Bevor ich mich um Camillas To-do-Liste kümmere, maile ich Lulu ein einziges Wort.
Von: Lizzy Harrison
An: Lulu Miller
Laurent?
Da ihr Friseursalon erst um elf geöffnet wird und sie meistens auf den Beinen ist, statt die Ablenkung eines Schreibtisches zu nutzen, ist sie eine miserable E-Mail-Korrespondentin. Also erwarte ich erst zu Mittag eine Antwort. Aber anscheinend ist ihr BlackBerry eingeschaltet, denn sie mailt sofort zurück.
Von: Lulu Miller
An: Lizzy Harrison
Ha, ha, er ist immer noch da, Süße. Ich rufe dich später an.
Au revoir.
Um halb zehn rauscht Camilla herein, ihr Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Offenbar telefoniert sie wieder mal mit dem Kindergarten. »Seine Geige? Tut mir so leid, Mrs Paton. Sobald ich im Büro war, habe ich’s gemerkt. Natürlich schicke ich Ihnen die Geige sofort. Vielen Dank, dass Sie mich informiert haben.«
Dann wirft sie mir einen schmerzlichen Blick zu, legt den Geigenkasten auf meinen Schreibtisch, und ich telefoniere zur Abwechslung mal mit dem Kurierdienst.
»Guten Morgen, Lizzy.
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