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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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versöhnt und wieder gestritten hatten; und zu den Jahren, in denen sie verliebt und glücklich gewesen waren …
    Träume.
    Unnütze Träume. Und selbstzerstörerisch dazu.
    Valentin seufzte und schlug die Augen auf.
    »Guten Morgen, Mr. Valentin«, sagte das homöostatische Apartment mit seiner penetrant fröhlichen, trompetengleichen Stimme. »Ich hoffe, Sie haben nicht vergessen, daß heute Räumungstermin ist. Sie haben noch genau vier Stunden und dreiunddreißig Minuten, um die Wohnung zu verlassen. Punkt zwölf Uhr zieht mein neuer Mieter ein.«
    Valentin stöhnte auf. Großer Gott, die Kündigung! Er hatte sie tatsächlich vergessen! Der schreckliche Streit mit dem Apartment … als er vor einer Woche diesen teuflischen, alkaloidversetzten Likör aus der Orbitalbrennerei des VEB Spirituosen getrunken hatte … nach der Trennung von Christina. War heute tatsächlich der Räumungstermin? Er konnte es nicht glauben. Aber es mußte stimmen. Das KI-Steuersystem des homöostatischen Apartments war ein kleinkarierter, spießiger Bastard, aber es log nicht. Es log nie. Lügen gehörten nicht zum Programm autonomer Immobilien. Immerhin. Man mußte dem Gesetzgeber fast dankbar dafür sein, den superschnellen, hochgezüchteten und bis zur Brutalität gerechten Computern im Justizministerium …
    »Sie sollten aufstehen, Mr. Valentin«, trompetete das Apartment. »Es ist ein herrlicher Tag, und die Zeit drängt.«
    Ein herrlicher Tag, sicher, dachte Valentin verdrossen und blinzelte müde in das graue Morgenlicht, das wie Schmutz auf der kargen Einrichtung des Schlafzimmers lag. Für das Apartment war jeder Tag ein herrlicher Tag. Die Mikrochips des KI-Systems strotzten vor Optimismus. Wenn die Expertenprogramme so etwas wie Religion kannten, dann war es die Religion des positiven Denkens.
    Es widerte ihn an.
    Mürrisch kaute er an dem Steak, und dann schmeckte er auch das süße Aroma des synthetischen Cognacs, mit dem er sich in Palmer’s Restaurant betrunken hatte. Um Christina zu vergessen. Natürlich ohne Erfolg. Es war schrecklich. Und wahrscheinlich würde er einen gewaltigen Kater haben, sobald der Einfluß der Retrozeit nachließ. Ausgerechnet heute, wo er im Institut erwartet wurde, um Hiram P. Astors Wiedergeburt vorzubereiten.
    »Mr. Valentin?« trompetete das Apartment. »Hören Sie mir überhaupt zu?«
    Valentin gab keine Antwort. Kauend und den Cognac schluckend wälzte er sich aus dem Bett, trat nackt ans Fenster und sah hinaus in den grauen, bewölkten, unerfreulichen Herbstmorgen.
    »Sie sind mir doch nicht gram, Mr. Valentin, oder?« fragte das Apartment. »Wegen der Kündigung, meine ich.«
    Zum Teufel mit der Kündigung, dachte Valentin. Er suchte die Straße ab und sah, wie erwartet, Lu Lohannons kleine, schmächtige Gestalt soeben um die Ecke biegen und sich mit trippelnden Schritten dem Eingang des Apartmenthauses nähern. Lohannon war ein alter, fast kahlköpfiger Mann mit leuchtend blau tätowierten Ohrmuscheln, wie sie vor einem halben Jahrhundert Mode gewesen waren. An der Brust seines blütenweißen, schmutzabweisenden UV-Schutzoveralls trug er wie immer die Tapferkeitsmedaillen, die ihm die israelische Regierung verliehen hatte, der Lohn der Angst für die Freiwilligen der Internationalen Brigade im Krieg gegen die Islamische Republik Palästina … Valentin konnte die Medaillen natürlich nicht sehen, da Lohannon rückwärts ging, doch er wußte, daß sie an seiner Brust angeberisch blitzten und funkelten.
    Er schnaubte verächtlich.
    Alles nur, um Benjamin Bernstein zu beeindrucken. Um trotz des Zeitunfalls, den er irgendwann in naher Zukunft erleiden würde, seine Stelle als Hausmeister zu behalten. Nun, Bernstein würde Lohannon niemals entlassen. Die wenigen Überlebenden der Internationalen Brigade waren die Hätschelkinder der amerikanischen Juden. Schließlich hatten sie es den Brigadisten zu verdanken, daß es nicht zu einem zweiten Holocaust gekommen war – und natürlich den High-Tech-Waffen des Wiedervereinigten Deutschlands.
    Lu Lohannon näherte sich rückwärts der Tür, die unter dem Einfluß seiner privaten Zeitsphäre von allein aufschwang – wie sie einst, in Lohannons ganz persönlicher Vergangenheit, von allein hinter ihm zugefallen war – und einen Moment später war der alte Mann im Haus verschwunden.
    Um ausgeruht und frisch sein Apartment zu betreten, sich auszuziehen, ins Bett zu legen und bis zum gestrigen Abend zu schlafen. Um erschöpft und müde aufzuwachen,

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