Willkommen in der Wirklichkeit
Wiedervereinigte Deutschland ist in keiner Weise mit dem Nazi-Deutschland vergleichbar. Denken Sie nur daran, was die Deutschen im israelisch-palästinensischen Krieg für Israel getan haben! Ohne ihre Hilfe …«
»Du irrst dich«, wiederholte Valentin. »Die Deutschen ändern sich nie. Niemals. Nicht in hundert, nicht in tausend Jahren.«
»Glauben Sie das wirklich, Mr. Valentin?« fragte das Apartment sanft.
Valentin ging zur Tür. »Ich weiß es.«
»Aber woher?« Das Apartment räusperte sich. »Ich meine, wieso sind Sie so sicher, daß …«
»Weil ich Reinkarnaut bin«, erklärte Valentin und öffnete die Tür. »Weil ich Kenntnis von den Dingen jenseits des Grabes habe. Weil ich ein Scout bin, der den Toten den Weg zurück ins Leben weist, in den Mutterschoß. Und die Toten«, sagte er, »wissen mehr als wir.«
Er trat hinaus auf den Korridor.
»Mr. Valentin!« rief ihm das Apartment nach. »Mr. Valentin, Sie müssen Ihre Sachen mitnehmen! Wenn um zwölf der neue Mieter kommt …«
»Später«, sagte Valentin. »Ich hole sie später ab.« Er zog die Tür hinter sich zu; das Geschrei des homöostatischen Apartments verstummte. Er drehte sich um – und blickte direkt in Lu Lohannons Gesicht.
Er hat auf mich gewartet, durchfuhr es Valentin. Aber warum? Was will er von mir? Er muß doch wissen, daß es zwischen uns keine Kommunikation geben kann, daß die Zeit uns trennt, daß wir unterschiedliche Wege gehen, er in die Vergangenheit und ich in die Zukunft.
Der Einfluß von Lohannons Retrozeitsphäre wurde stärker. Valentin spürte, wie sie an ihm zerrte, nicht körperlich, sondern geistig, wie seine Gedanken träger wurden, sich verlangsamten, als wollten sie sich umkehren, das Gedachte erneut denken, und er hatte Angst. Er schluckte, aber das Stück Steak kam sofort wieder hoch. Und er spürte, wie weitere Bissen aus dem Verdauungstrakt in den Magen wanderten, Säuren und Enzyme von sich gaben, ihre alte Form annahmen und sich ruckartig die Speiseröhre hinaufbewegten. Er würgte und begann zu schwitzen, aber es war ein zeitverkehrter Schweißausbruch: Luftfeuchtigkeit kondensierte auf seiner Haut und wurde von den Poren aufgesogen.
Wie gelähmt stand er da, während Lohannon ihn schweigend, mit einem seltsam bekümmerten Gesichtsausdruck betrachtete.
Plötzlich lächelte der alte Mann unter dem dünnen Film seiner Pigmentmaske, »tutitsnI muz sib tiew thcin tsi se dnU. gnugeweB nehcuarb nehconK netla eiD. ßuF uz rebeil eheg hci reba, nitnelaV .rM, nenhI nov hcildnuerf rhes«, sagte er, »eknad, nieN.«
Es klang wie ein rückwärts laufendes Tonband. Valentin verstand kein Wort. Nervös erwiderte er das Lächeln, und dann – ohne es zu wollen, wie unter Zwang – sagte er heiser: »Guten Morgen, Mr. Lohannon. Soll ich Sie mit ins Institut nehmen?«
»nitnelaV .rM, negroM netuG«, sagte Lohannon. Er drehte sich halb und näherte sich rückwärts seiner Apartmenttür. Mit einem Klicken, wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich die Tür. Noch ein Schritt nach hinten, und der alte Mann war aus Valentins Blickfeld verschwunden. Die Tür schloß sich wieder.
Valentin war allein.
Er spuckte einige Steakbrocken aus und preßte die Stirn an den kühlen Kunststoffverputz der Korridorwand. Nach und nach normalisierte sich sein jagender Herzschlag, und von unendlicher Erleichterung erfüllt spürte er, wie der retrozeitliche Einfluß schwächer wurde.
Aber er hatte noch immer Angst.
Und dann wurde ihm klar, woher seine Angst rührte: Weil Lohannon die Zukunft kannte. Weil er wußte, was morgen, übermorgen, nächste Woche oder nächsten Monat geschehen würde, bis hin zu jenem Moment, in dem … ja was? Welches Ereignis würde Lu Lohannons Eigenzeit umkehren, ihn zur retrozeitlichen Wiederholung seines bisherigen Lebens zwingen, ihn zu einem Schicksal verdammen, wie es sich grausamer nicht denken ließ?
Allein zu sein, durchfuhr es Valentin, allein wie nie ein Mensch zuvor, durch die Mauer der Zeit von allen anderen Menschen getrennt. Dazu verurteilt, alles Gesehene noch einmal zu sehen, alles Gehörte noch einmal zu hören, alles Gesagte noch einmal zu sagen. Wir trinken das frische, kristallklare Wasser der Zukunft, dachte er, aber Lu muß seinen Lebensdurst am schalen Tümpel der Vergangenheit stillen. Mein Gott, was ist nur passiert – was wird passieren?
Aber er wußte, daß nur Lu Lohannon die Antwort darauf kannte, und Lu würde sie ihnen nicht geben können, weil er gefangen war im starren,
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