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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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unveränderlichen Muster der Vergangenheit, die seine Zukunft war.
    Dann dachte er an Lohannons Gesichtsausdruck, diesen kummervollen Gesichtsausdruck … Valentin fröstelte. Warum hatte Lu ihn so angesehen? Wie man einen … Todeskandidaten ansah. Er kannte die Zukunft, also – was wußte er? Hatte es mit Christina zu tun? War es das?
    Vielleicht werde ich mir etwas antun, dachte Valentin. Gott, es ist vorstellbar. Wie das Apartment gesagt hat – ich bin eine Persönlichkeit, die nicht verstehen und niemals verzeihen kann. Und deshalb werde ich die Trennung von Christina nie überwinden. Der Schmerz wird in mir bleiben, im Innersten meines Herzens, meiner Seele, bis zum Tod …
    Aber es gab keinen Tod.
    Es hatte ihn nie gegeben.
    Er wußte es. Er war Reinkarnaut. Wie ein Astronaut in die Regionen jenseits der Erdatmosphäre vorstieß, so stieß er in die Regionen jenseits des Grabes vor. Er wußte, daß es nur das Leben gab, das zeitlose, raumlose, seinlose Intervall, das die Unwissenden Tod nannten, und dann den Wiedereintritt in den Mutterschoß, die Geburt, das neue Leben bis zum nächsten Intervall.
    Es gab keinen Grund, sich zu fürchten.
    Und trotzdem hatte er Angst. Weil in den Regionen jenseits des Grabes …
    Valentin straffte sich und schüttelte heftig den Kopf, wie um die düsteren, unerwünschten Gedanken zu vertreiben. Es hatte keinen Zweck, hier herumzustehen und zu grübeln. Er wurde im Institut erwartet. Und er mußte sich ein neues Apartment suchen.
    Mit großen Schritten ging er zum Aufzug. Erst auf der Fahrt hinauf zum Landedach des Gebäudes fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, das Apartment zu fragen, wer der neue Mieter war. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich mit ihm zu einigen. Vielleicht ließ sich das Apartment sogar dazu überreden, die Kündigung zurückzunehmen und … Aber wie er das Apartment kannte, würde es sich auf keine Diskussionen einlassen. In dieser Hinsicht war es wie Christina: hatte es erst einmal eine Entscheidung getroffen, blieb es dabei, und keine Macht der Welt konnte daran etwas ändern.
    Valentin kniff grimmig die Lippen zusammen.
    Und wenn schon! Im Grunde war er froh über die Kündigung. Weil sie wie eine Befreiung war, eine Befreiung von dem gespenstischen, zutiefst beunruhigenden Einfluß der Retrozeit.

 
2
     
    Auf dem Landedach des Apartmenthauses empfing ihn kalter, schneidender Wind. Die Luft roch nach den modrigen Ausdünstungen der Stadt, die sich wie ein graubrauner Flickenteppich unter ihm ausbreitete. Nur hier und dort stachen grüne Tupfer aus dem düsteren Häusermeer hervor, verkrüppelte Bäume, brandige Grasflächen, dorniges Buschwerk, die letzten Überbleibsel einer einst üppigen Vegetation, die von der ungefilterten, zerstörerischen UV-Strahlung zugrunde gerichtet worden war. Aber auch die Stadt war gezeichnet, lag auf weiter Fläche in Trümmern: wie die ganze Westküste war auch Los Angeles um die Jahrtausendwende vom Großen Beben heimgesucht und niemals vollständig wiederaufgebaut worden. In ihren Ruinen hausten die Nighties, die Opfer des wirtschaftlichen Niedergangs, der Amerika in einen dahinsiechenden Pflegefall verwandelt hatte.
    Der kranke Mann des Westens, dachte Valentin, der am Tropf der sino-japanischen Wohlstandssphäre und der Europäischen Gemeinschaft hängt. Und der damit auf Gedeih und Verderb den mächtigen, weltumspannenden VEB-Trusts des Wiedervereinigten Deutschlands ausgeliefert ist.
    Die USA hatten sich nie von der katastrophalen, selbstmörderischen High-Debt-Policy der Reagan-Administration in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erholt. Vielleicht, dachte Valentin, während er zu seinem wartenden Schwebewagen schritt, vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Gorbatschow damals mit seiner Politik der Perestroika und des Glasnost gescheitert wäre. Wenn es gelungen wäre, die Europäer – und vor allem die Deutschen – unter Beschwörung der kommunistischen Gefahr zu weiteren kostspieligen Rüstungsanstrengungen zu bewegen. Aber die Demokratisierung der sozialistischen Staaten hatte zu einer Annäherung West- und Osteuropas, zur Auflösung von NATO und Warschauer Pakt und zur drastischen Senkung der europäischen Verteidigungsausgaben geführt. Während sich die USA in ihrer paranoiden Furcht vor dem Kommunismus buchstäblich zu Tode gerüstet hatten.
    Und dann, dachte Valentin, darf man natürlich den genialen sowjetischen Plan zur Neutralisierung Deutschlands nicht vergessen. Er kam genau

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