Willkommen in der Wirklichkeit
einen Kuß auf die Wange. »Ich muß jetzt gehen. Wir sehen uns morgen.«
Sie ging hinaus.
Draußen klarte der Himmel weiter auf. Immer mehr Sterne wurden sichtbar. Sie schienen ganz nah. Furchterregend nah.
6
Am nächsten Morgen war der Himmel wolkenlos blau; das goldene Herbstlicht verlieh selbst dem tristen Ruinengürtel jenseits der Institutsmauer so etwas wie den morbiden Charme der Dekadenz. Die Ereignisse des gestrigen Abends kamen Valentin wie ein böser Traum vor.
Aber hinter dem Gold der Herbstsonne verbarg sich die zerstörerische, krebserzeugende UV-Strahlung, und hinter der Illusion des bösen Traums die drückende, brutale Realität. Vielleicht hätte er Lohannons Geschichte als Hirngespinst abtun können, wäre sie von Christina nicht indirekt bestätigt worden.
Valentin fragte sich, ob ihr Angebot ernst gemeint gewesen war. Vermutlich, dachte er düster. Wenn ich Hutten bei einem faustischen Zeitexperiment helfe, läßt Christina die Klage fallen und kehrt zu mir zurück. Weigere ich mich, wird sie mich ruinieren. Doch es gab noch eine andere Möglichkeit: daß sie ihn täuschte und ihn in jedem Fall verlassen würde, ganz gleich, ob er bei Huttens Plan mitmachte oder nicht. Trotzdem, dachte Valentin, ich werde es tun, und sie weiß es. Sie ist Psychologin; sie hat mich durchschaut. Meine Liebe zu ihr gibt ihr Macht über mein Leben, und Christina ist nicht der Typ Frau, der eine solche Chance ungenutzt läßt.
Deprimiert zog er sich an.
Dr. Janosz studierte zufrieden den Computerausdruck des Robodocs. »Sie sind weitgehend wiederhergestellt«, sagte der Arzt. »Aber Sie sollten sich trotzdem die nächsten Wochen schonen. Aus medizinischer Sicht wäre jeder Transfer vor Ablauf eines Monats ein erhebliches Risiko. Allerdings befürchte ich«, fügte er seufzend hinzu, »daß Bernstein andere Pläne mit Ihnen hat. Sie sollen heute nachmittag in sein Büro kommen. Gegen siebzehn Uhr.«
Valentin zog die Schutzhandschuhe an und streifte die Pigmentmaske über den Kopf. »Ein neuer Klient?« fragte er betont gleichmütig. Crawford, dachte er. Das kann nur Sean Crawford alias Karl von Hutten sein.
»Ja. Ein stinkreicher Importkaufmann von der Ostküste. Crawford. Wie man hört, hat er Millionen im High-Tech-Geschäft mit dem Wiedervereinigten Deutschland verdient, aber …« – er lachte humorlos – »all sein Geld hat ihn nicht davor bewahrt, sich mit einer neuen, noch unheilbaren Aids-Variante anzustecken. Er wurde gestern eingeliefert.« Janosz runzelte die Stirn. »Ihre Frau arbeitet für ihn. Sie ist ebenfalls im Institut. Zusammen mit einem ganzen Haufen anderer Leute, die zu Crawfords Stab gehören. Komischer Kauz. Hat offenbar Angst, einsam zu sterben.« Er lachte wieder.
»Ich habe gestern mit Christina gesprochen«, sagte Valentin.
»Haben Sie etwas erreicht?« Janosz kratzte sich nervös am Kopf. »Wegen dieser Klage, meine ich. Es geht mich natürlich nichts an, aber …«
»Ich glaube, sie wird zur Vernunft kommen«, sagte Valentin mit gespieltem Optimismus.
Der Arzt atmete erleichtert auf. »Freut mich, das zu hören. Wirklich. Sie wissen es wahrscheinlich noch nicht, aber … Nun, Schomon wird Sie nicht vor Gericht vertreten können. Der Vormund irgendeines von unseren früheren Klienten hat das Institut verklagt. Angeblich hat der zuständige Reinkarnaut Pfuscharbeit geleistet und den Verblichenen in einen asiatischen Mutterschoß gelotst. Und da der Klient praktizierender Rassist war … Sehr unangenehm. Schomon wird die nächste Zeit alle Hände voll zu tun haben, um das Institut vor dem Ruin zu bewahren.«
»Oh«, machte Valentin. Aber es war logisch. Wenn Hutten das Institut über einen Strohmann gekauft hatte, war es kein Problem für ihn, den Justitiar auf einen anderen Fall anzusetzen. Um zu verhindern, daß der gerissene jüdische Advokat einen Weg fand, Valentin vor der Verurteilung durch das homöostatische Gericht von Los Angeles zu bewahren. Vielleicht war Schomon sogar eingeweiht … Und die Aussicht, die Opfer des Holocaust zu retten, mußte für jeden Juden verlockend sein … »Ich werde mir einen anderen Anwalt nehmen«, sagte er laut. »Kein Problem.«
»Stella hat übrigens aus Mountain Springs angerufen«, erklärte Janosz. Er sah Valentin wachsam an. »Sie hat Astors Mutter gefunden. Eine strenggläubige Mormonin. Ihr Mann hat noch zwei weitere Frauen. Croft soll fast einen Herzschlag bekommen haben, aber rein rechtlich kann er nichts unternehmen.
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