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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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jemand an der Tür. Florenz und Dieter wandten den Kopf. Dorothea Brescott kehrte der Runde zittrig den Rücken.
    Im Korridor stand ein grauhaariger, vollbärtiger Mann in Jeans, T-Shirt und aufgeknöpftem grauen Arbeitskittel. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte tiefliegende, eindringliche Augen und trug das Haar aus der hohen Stirn zurückgekämmt. Wenn er sich bewegte, tat er es langsam und vorsichtig.
    Ohne sonst jemanden zu beachten ging er auf Florenz zu und schüttelte ihm herzlich die Hand. Dabei sah er ihn die ganze Zeit angestrengt an. »Sie sind Florenz Wallmond, nicht wahr?« fragte er. »Sie sollen wissen, daß ich Ihre Musik sehr bewundere. Ich habe mich schon viele Stunden damit beschäftigt. Wie haben Sie das vollbracht? Bei Gott, das sind alles nur Maschinen, aber ich habe ihren Atem hören können. Sie bringen Leben in die toten Schaltkreise. Sie geben ihnen ein Herz. Es ist wirklich Zauberei.«
    »Ich tu, was ich kann«, sagte Florenz.
    »Kommen Sie mit. Helfen Sie mir«, bat Phil und zog ihn mit sich. »Wenn mir einer helfen kann, dann sind Sie das. Sie müssen wissen, was da vor sich geht.«
    Die beiden verschwanden im Flur.
    Dieter Wesselheimer grunzte und schüttelte den Kopf, als er sich vom Kühlschrank abstieß, um ihnen zu folgen. »Sie müssen sich ein wenig an ihn gewöhnen«, sagte Winfried Schlicht in der Tür. »Er ist kein ganz einfacher Mensch.«
    »Den Eindruck habe ich auch«, brummte Dieter.
    Aus der Werkstatt tönte lautes, helles Rauschen. Zwei Dutzend Fernseher standen angeschaltet auf den Arbeitstischen des etwa vier mal sechs Meter großen Zimmers. Sie alle waren auf tote Kanäle eingestellt. Es gab keine anderen Lichtquellen als den fahlen Schein ihrer verrauschten Bildschirme. Die Geräusche aus ihren Lautsprechern mischten sich mit dem Rauschen der unzähligen, auf jeder freien Ecke aufgestapelten Radios. Schraubenzieher, Muttern und Schrauben und abmontierte Gehäuseteile lagen umher.
    Phil war mitten im Raum stehengeblieben, hatte den Kopf geneigt und lauschte. Florenz hatte sich nur wenige Schritte in die Werkstatt hineingewagt und blickte sich ratlos um. Dieter Wesselheimer und Winfried Schlicht blieben in der Tür stehen.
    »Es ist vorbei«, stellte Phil fest, während er sich langsam um die eigene Achse drehte. »Aber das dauert sicher nicht lang.« Er ging zum nächstbesten Radio und ging mit Hilfe eines Drehknopfs den gesamten Empfangsbereich des Mittelwellenkanals durch. Musik- und Sprachfetzen flackerten auf, aber Phil schüttelte enttäuscht den Kopf. »Nein, sie sind nicht mehr da.«
    »Was ist passiert?« fragte Winfried Schlicht entgeistert. »Können wir irgendwie helfen?«
    »Ja, kommt rein, meine Freunde.« Er ging zur Tür, und nachdem alle eingetreten waren, schloß er sie hinter ihnen. »Ihr kennt diese Welt besser als ich. Ich weiß nicht einmal, wie ich hierher gekommen bin. Aber ich habe eine Vermutung. Ich bin so langsam gestorben. Ich bin nicht plötzlich über die Schwelle des Todes gestürzt, sondern habe mich ganz langsam auf diese Schwelle zubewegt.« Er starrte ins Leere. Alle Gesichter waren ihm zugekehrt. »Wenn es so langsam geht, gerät man an den Punkt, der genau zwischen Leben und Tod liegt. Dort heben sich die Schranken unserer Existenz auf, und dort sind auch Raum und Zeit aufgehoben. Von dort kann es einen überallhin verschlagen.«
    Dieter Wesselheimer schürzte die Lippen und warf einen skeptischen Seitenblick zu Winfried Schlicht. Der lenkte mit einer Geste Phils Aufmerksamkeit auf den Mann neben ihm. »Phil, das ist Dieter Wesselheimer«, sagte er. »Er ist hier, um über unser Projekt zu reden.«
    Phil lächelte und begrüßte den Gast mit einer herzlichen Umarmung. Dieter Wesselheimer schnaufte überrascht und musterte sein Gegenüber von Kopf bis Fuß. »Ich weiß, daß ich nicht in allen Punkten Ihrer Meinung bin«, sagte Phil. »Aber ich habe Respekt vor Ihnen. Sie sind ein wirklicher Menschenfreund. Sie lassen sich in allem, was Sie tun, von Ihrem Wunsch nach Freiheit leiten. Glauben Sie mir, die Welt braucht Menschen wie Sie. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Und Sie sind noch dazu ein hervorragender Schriftsteller. Meiner Schwester konnte in Deutschland nichts besseres passieren. Meinen Sie, daß ich sie sehen kann?«
    »Nun«, sagte Dieter Wesselheimer. »Das ist nicht einfach.«
    »Sie werden mir helfen, nicht wahr? Ich weiß das ganz sicher. Wenn ich nur …« Er brach erschrocken ab. »Gott, wir haben nur wenig

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