Willkommen in der Wirklichkeit
über die Peiniger, und die Ursache wäre der grausame Strafvollzug.
Am Ankermast schwojen zwei Luftschiffe im schwachen Wind, ihre Zigarrenleiber prall und riesig wie irreale Erektionen eines Lusttraums, verdunkeln das Firmament: LZ 135 ›Kapitänleutnant Heinrich Mathy‹ (Länge 265m, Durchmesser 45m, Volumen 250.000m 3 , Nutzlast 801, 6 Maybach-Motoren von je 1150 PS, Geschwindigkeit 45,5m/sek) und der etwas längere und stärkere (nämlich mit 6 Daimler-Dieselmotoren LOF 8 von je 1200 PS) motorisierte LZ 140 ›Korvettenkapitän Peter Strasser‹; beide Luftschiffe, Zeppeline der Deutschen Luftschiff-Reederei, haben ihren Standort in Wilhelmshaven, beide sind nach sogenannten Helden des Weltkrieges benannt (KK Peter Strasser war Kommandeur der Marine-Luftschiffabteilung, er weilte an Bord des LZ 112, als das Luftschiff in der Nacht vom 5. auf den 6. August 1918 nach Beschuß durch ein Feindflugzeug vor der britischen Küste brennend ins Meer stürzte).
Über eine Gangway besteigen Kürten und der Hypnotisierte, der ihm folgt wie ein Hund, LZ 135, streben durch einen der außen gelegenen Wandelgänge, vorbei an Speisesaal und Gesellschaftsraum, in denen still Gestalten stehen, wohl Gorillas des Zentikraten H.G., Kürtens unmittelbarem Vorgesetzten in der Hierarchie der ZIR [5] . Kürten spürt ihre Blicke, als durchquere er eine mikroklimatische Ballung gewittriger Luft, während er vorüberhinkt, aber man läßt ihn und seinen Schützling passieren. Zentikraten sollen über besondere sinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten verfügen (z.B. psionische Fernerkennung von Fremdpsychen), also unterstellt Kürten, daß H.G. längst weiß, er kommt, seine Wachhunde entsprechende Befehle erhalten haben. Aus dem Hintergrund säuselt das pastorale Larghetto aus Antonio Vivaldis Fagott-Konzert Nr. 2. Hinter dem Rauchsalon erwartet ein bulliger, ungefähr wie ein Matrose gekleideter Luftschiffer Kürten, dessen Fuß höllisch schmerzt, weist den Ankömmling mit dem Daumen in den Innenbereich der zweistöckigen Gondel (unter der zudem die allerdings erheblich kleinere Führungsgondel liegt). Achtlos nickt Kürten dem Mann zu, biegt vom Wandelgang in einen Flur ab, gelangt mit seinem Schutzbefohlenen vor eine mit Leder gepolsterte Tür. Ohne Zögern drückt er den Klingelknopf, ein Summen ertönt. Kürten öffnet die Tür. Der Zentikrat ist ihm kein Unbekannter. (Um nicht zu sagen, der Kommissar hat ihn seit langem satt.)
Zentikrat H.G. empfängt Kürten mit einem äußerst unterkühlten Blick aus seinen von Tränensäcken schweren, ja schwermütigen Augen, und die einem Keil vergleichbare Nase, die Schmalheit der Lippen und der streng korrekte Scheitel verstärken noch den Ausdruck bitterböser Ungnädigkeit, in dem seine Miene erstarrt zu sein scheint; genau 10cm seitlich über seinem Schädel flimmert, einer violetten Seifenblase ähnlich, eine durch ein psychokinetisches Schleifengebilde an ihn gekoppeltes quasi-psionisches Relais; er sitzt in einem gediegen-stilvollen, aber überaus eigenwillig hergerichteten Studierzimmer, getäfelt mit Mahagoni, wahrscheinlich dem ursprünglichen Schreibzimmer des Luftschiffs, hinter einem Pult mit viel Leder und Messing in einem Ledersessel; eine Anzahl in Hufeisenform angeordneter Sekretäre aus gebeizter Eiche mit Esche-Emaille-Beschlägen umgibt das Pult, auf den herausgeklappten Schreibflächen stapeln sich im Licht von Jugendstil-Lampen Atlanten, Lexika, Nachschlagewerke der verschiedensten Art – alles dicke Schwarten und Scharteken, viel dicker als die Karl May-Bände, die Kommissar Kürten stets gerne geschmökert hat –, liegen zuhauf Ton-, Bild- und Datenträger unterschiedlicher Machart (und verschiedener Epochen, wie Kürten gleich bemerkt): Walzen, Tonbänder, Grammophonplatten, Filmrollen, diverse Kassetten, Holo-Speicherkristalle und Infochips sowie mehrere Herrn Kürten unvertraute Apparaturen und Gerätschaften, dazu Karteikästen voller Diapositive und Photographien, ferner gebündelte Zeitschriften und Akten (Ordner und Helfer), allerlei Dosen und Schachteln sowie etliche Bureau-Materialien und Schreibutensilien. An der linken Wand (von der Tür aus gesehen) hängen Eugen Brachts deprimierendes Bombast-Panoramagemälde ›Das Gestade der Vergessenheit‹; an der rechten Wand (die wegen der dort aufgetürmten Geräte weniger Platz läßt) Franz von Studs Ölbild ›Liegende Sünde‹; hinter dem Zentikraten schmücken Tamara de Lempickas Porträts Dr. Boucards (des
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