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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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er sich wieder in den Stuhl, als H.G. sich zurück hinters Pult begibt und setzt, auf der Platte die Hände faltet, als beabsichtige er ein Tischgebet zu sprechen. »Damit polemisiere ich keineswegs gegen Sie, Herr Kürten«, beteuerte H.G. »Sie sind nie richtig erwachsen geworden, bloß ’n überdrehter Proletenjunge, der auf Irrwege getappt ist. Sie haben in Ihrem jetzigen, reorientierten Dasein eine Chance, als Dezikrat der ZIR Teile der menschlichen Geschichte neu zu bestimmen. Seien Sie froh und dankbar. Die ZIR schätzt Männer wie Sie, Sie sind für uns unentbehrlich.«
    »Die Schuld ist fort«, sagt Kürten leise, »aber die Berufung ist geblieben.« Er versteht nicht so recht, was das Geschwafel soll. Seit er wieder sitzt, hat der Schmerz in seinem Fuß deutlich nachgelassen, und das ist ihm momentan die Hauptsache.
    H.G. schneidet eine Miene wie auf einer Beerdigung. »Leider haben wir starke Gegner. Die PIF gewinnt in manchen Temporalzonen an Einfluß, ganz zu schweigen von der geheimnisvollen Dritten Organisation, von der wir zu wenig wissen, um sie wirksam bekämpfen zu können.« Einen Moment lang mißt er Kürten harten, abschätzigen Blicks. »Sperren Sie die Ohren auf, Dezikrat!« Bei dieser Anrede merkt der Kriminalkommissar denn auch tatsächlich auf; sie beweist nämlich, daß sein Vorgesetzter es bitterernst meint. »Um die Situation ungeschminkt darzustellen: Die ZIR steckt in einer Krise. Die PIF hat Kennedy abgeknallt, als wir eine der Großmächte der zwoten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unter Kontrolle bekamen – das war unser soundsovielter Anlauf –, und den alten Schlawiner Ghandi, sie hat Italo Balbo beseitigt, den wir als Nachfolger des Blödians Mussolini aufgebaut hatten, und auch den Feldmarschall Rommel. Unsere Kameraden im Neunzehnten konnten den Trend unterlaufen, sie haben ihnen Abraham Lincoln, Ludwig den Zwoten und Benjamin Bathurst weggeputzt, trotzdem schaut die Lage hier im Zwanzigsten mau aus …« Als schwäche den Zeigefinger der Makel des allzu Menschlich-Unzulänglichen, erhebt H.G. diesmal einen Cloisonné-Füllfederhalter. »Wir müssen unsere Position verteidigen, verbessern, zur Offensive übergehen.«
    »›Treu und Fleiß erringt den Preis‹«, zitiert Kürten mit laschem Zynismus den Strafanstaltsbeamten Töteberg, dem er schon 1903 voraussagte, man würde ihn eines Tages hinrichten (und vielleicht hat er sich damals unter Erfüllungszwang gesetzt?). Wortlos vor Staunen beobachtet er, den Kopf sinnig seitwärts geneigt, den Neurosomatik-Automaton, der sich um den Hals des Amis schmiegt, surrt und schnurrt, kaum merklich bebt, als triebe er eine Art von Sodomie, die elektrische Emsigkeit des Maschinchens wächst, seine Geräuschentwicklung schwillt an, bis es wie der Bohrer eines Zahnarztes heult. Kann ja sein, denkt sich Kürten, daß die Seele des Kerls so ein Abgrund der Sünde ist, daß das Roboterchen weinen muß. Hoffentlich kriegt es keinen Kurzschluß … Unvermutet riecht er Brandgeruch, aber der Automaton qualmt nicht, der Gestank ist nur ein Erinnern, einem Schlaglicht gleich, die Erinnerung an die kleine Rosa Ohliger, deren Leiche er mit Petroleum übergossen und angezündet hat, um ein Rauch- und Brandopfer darzubringen.
    »Sie haben die frivole Witzigkeit Angekränkelter, Kürten.« H.G. seufzt auf, als bedrücke die Uneinsichtigkeit des Dezikraten sein Gemüt wie ein Alp, der ihn regelmäßig heimsucht. »Damit wir uns auf gar keinen Fall mißverstehen: Ich erteile Ihnen jetzt zum letztenmal klipp und klar den Befehl, diesen Haarmann zu liquidieren. Begeben Sie sich in sein Milieu. Er zählt zu den stumpfsten Asozialen, ist zu Hause in den schmierigsten Kreisen der Unterwelt.« Der Zentikrat zieht eine Miene, als martere ihn diese Vorstellung. »Man darf wohl von Ihnen erwarten, auch wenn Sie über kein ariosophisches Grundwissen verfügen, daß Sie sich den depravierten Instinkten eines derartigen Rückfalls ins Höhlenmenschentum als überlegen erweisen.«
    »Das will ich mich nicht zu bejahen unterstehen«, antwortet Kommissar Kürten in einer der Launen von Bescheidenheit, die ihn bisweilen zu der Ansicht verleiten, eine höhere Natur zu haben. Immerhin hat er nun völlig verstanden, auf was es dem Zentikraten ankommt. Friedrich Haarmann, der ausgekochte Unzüchtler, muß aus der Welt geschafft werden, radikal und endgültig: Daran führt kein Weg mehr vorbei.
    H.G. stützt für einen Moment das Kinn auf die verklammerten Hände,

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