Willkommen in der Wirklichkeit
solchen Tiermenschen hingezogen, geben Sie’s zu, Mann.« H.G. erhebt sich hinterm Schreibpult, indem seine Hand den Abtaster des Speicherkristalls berührt, die Zellschwingungen ihn desaktivieren, so daß die Holo-Projektion erlischt. »Vielleicht haben Sie nicht-arisches Affenblut im Leib.«
»Ich bin immer gequält und gepeinigt worden.« Kürten hegt, obwohl er nicht weiß warum, die Auffassung, das sei die richtige Antwort auf alle erdenklichen Anwürfe. (Drüben in der Anderzeit, in seinem Erstleben, hatte sein Vater vom Saufen das Delirium, tat sich im Elternhaus durch Brutalität, Gewalttätigkeiten, Krakeelen, Zertrümmern der Möbel, Mißhandeln der Mutter und Notzüchtigung der eigenen Tochter hervor, und als Lehrling in der Eisengießerei widerfuhr ihm – wie er jedenfalls später, während der Haft, Professor Sioli angab – eine ›barbarische, hundsgemeine Behandlung‹.) »Aus dem Grab der Christine Klein hat eine Stimme zu mir gesagt, ich sei der Schwerstgeprüfte nach dem Heiland.« Kürten spürt, wie sein Gesicht sich unwillkürlich zu einem Grienen verzieht, er bemerkt den Blick höchsten Befremdens, den Zentikrat H.G. ihm nun zuwirft, und bemüht sich um Selbstbeherrschung, nimmt eine Hand aus der Tasche, winkt lax hinüber zu seinem Schützling. »Das ist der Ami.«
»Der Ami. Aha.« H.G. kommt ums Pult, verschränkt die Hände auf dem Rücken, schiebt ein wenig den Bauch vor, senkt den Kopf und mustert Kürten wie ein Geier einen Untoten. »Genausogut könnten Sie ihn ›Heini‹ nennen. Amerika ist nämlich nach dem Italiener Amerigo Vespucci benannt, und Amerigo ist die romanische Form des ungarischen Namens Emmerich, dessen deutsche Fassung wiederum schlicht Heinrich heißt. Deshalb könnte man die Amis ebensogut als Heinis bezeichnen. Nur damit Sie wissen, wovon Sie überhaupt schwatzen.« Er schmunzelt süffisant.
Schon als der Zentikrat wieder einmal mit seiner Klugscheißerei loslegt, hat Kürten die Lippen zu einem Schmollmund gespitzt. Seine Lider sind halb herabgesunken. Er hatte … Es gibt noch mehr, das er nicht vergessen kann, aber er vermag sich nicht daran zu erinnern, was es ist. »Der Herr Lüdke, den Sie mir zur Unterstützung geschickt haben, war schrecklich dumm und primitiv«, sagt er renitent zu H.G., als läge ihm daran, Haarmann in Schutz zu nehmen. »Mit dem Unikum ließ sich auch nicht stronze.« Aber er möchte wohl nur den Zentikraten ärgern.
Kürtens Vorgesetzter hat den Hypnotisierten aus der Nähe betrachtet, kehrt jetzt zum Pult zurück. »Ach? Hat er seine Aufgabe nicht erfüllt?« Aus einer seladongrünen Art-Déco-Schale hebt er ein Maschinchen von futuristischem Design, einen Zylinder mit rechteckigen Leuchtflächen, geschlitzten Noppen und einem Bügel, an dem er das Apparätchen dem Ami um den Nacken hängt. Augenblicklich zucken aus den Noppen Dutzende von Tentakeln, dünn wie Nadeln, jedoch enorm biegsam-schmiegsam, ihre haarfeinen, verzweigten Spitzen bohren sich in die graumelierten Schläfen des Amerikaners, ein leises, fast noch unterschwelliges Gesumme wird hörbar.
»Doch«, gesteht Kürten widerwillig zu. »Er hat gewütet wie ’n Urvieh. Mir vier Mann vom Hals gehalten.« Wie ihre Knochen geknackt haben, wie Steingut.
»Auch der atavistische Unhold-Typus«, erklärt H.G. in seinem Oberlehrernäseln, streckt dabei wahrhaftig, als parodiere er sich selbst, einen Zeigefinger in die Höhe, »mag unter gewissen Umständen nutzreiche Dienste zu verrichten.« Träge schweift Kriminalkommissar Kürtens Blick über das Durcheinander auf dem Pult des Zentikraten; zwischen den Bestandteilen der marmornen Schreibausstattung sieht Kürten Ausgaben des Echo de Paris, Marzipan-Zeppeline, Zigarren mit Graf Zeppelin-Bildchen auf der Binde, einen Graf Zeppelin-Nußknacker, Katapultpost-Briefhüllen, einen silbernen Miniatur-Zeppelin als Briefbeschwerer und zwei in Rähmchen aufgestellte Photographien. Neugierig beugt sich Kürten vor, kann die abgelichteten Personen erkennen: Rechts ist es Kapitänleutnant Mathy, nach dem das Luftschiff LZ 135 getauft ist, weil man ihn im Oktober 1916 über England mit LZ 72 abschoß, er sprang aus dem entflammten Marine-Luftschiff, sein Körper hinterließ auf einer Weide einen mehreren Zentimeter tiefen Abdruck, genau als hätte sein Sturz bloß in einem Zeichentrickfilm stattgefunden. Links erblickt Kürten zu seiner Verwunderung das Konterfei der von Skandalen umwitterten Malerin Tamara de Lempicka. Ruckartig lehnt
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