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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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Lacteol-Erfinders) und des ›Manns mit Hut‹ die Wand. Insgeheim ist Kürten der Überzeugung, daß man nirgends auf der Welt eine zweite so schwülstig schwüle und doch technizistische Bude finden kann.
    Ein Telefunken-Fernschreiber rattert, doch ihn beachtet H.G. nicht. Vor ihm leuchtet, aus einem Speicherkristall projiziert, ein 20 mal 20 mal 20cm großes Holobild, durch das Schriftzeilen und photographische Abbildungen wandern, und diesen Daten gehört sein ungeteiltes Interesse.
    Doch Kürten ist derlei arrogante Faxen gewöhnt, er setzt sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, in den extravaganten Armlehnstuhl, der vorm Pult steht, atmet mit hörbarem Schnaufen auf, seufzt und hüstelt. Sein Schützling verhält mitten im Zimmer, als wäre er ein Golem ohne eigene Entschlußkraft, ein Maschinenmensch ohne Willen, stiert vor sich hin, genau zwischen die beiden in Öl gemalten Porträts, als übten deren metallische Farbtöne auf ihn eine zwiespältige Wirkung aus.
    »Nehmen Sie Platz, Kürten«, sagte H.G. verspätet, denn Kürten sitzt ja schon, betastet sich zimperlich das wie durch ein Wunder ungebrochen gebliebene Nasenbein. »Wo ist Lüdke?« [6]
    »Im Schauhaus«, gibt Kürten knochentrocken zur Antwort. Er spricht aus Überdruß so kurz und bündig, der ganze Schlamassel ekelt ihn an bis zum Gehtnichtmehr. »Hitzestrahl-Treffer im Oberkörper. Glatter Durchschuß. Dürfte auf der Stelle abgekratzt sein.« Ich hätte den Arm durch den Brustkorb schieben können. Der Schußkanal war völlig verkrustet. Kein Blut da zum Schlürfen. Früher einmal, in seiner Existenz in der Anderzeit, verhielt es sich so, glaubt er, daß er Blut rauschen hören mußte, aus noch warmen Adern rauschen, dann war ihm der Samenerguß sicher. Plötzlich ist ihm zum Kotzen zumute. Er hat, wenn er sich recht entsinnt, das Blut jedesmal wieder erbrochen.
    »Verdammte Schweinerei«, murmelt der Zentikrat in seinem holprigen Deutsch, tippt den Mittelfinger auf die Taste einer Wechselsprechanlage, beginnt in einer Kürten nicht geläufigen Sprache zu reden. Sein Tonfall legt die Schlußfolgerung nahe, daß er Anweisungen erteilt. Vermutlich veranlaßt er, daß Lüdkes Leiche herbeigeschafft und eine Reanimation versucht wird; Kürten hält, weil er die Wunde gesehen hat, einen solchen Versuch für aussichtslos, jedoch fragt ihn niemand nach seiner Meinung. »Sie sind eine Orgelpfeife, Kürten«, behauptet H.G. unvermittelt, während der Kommissar, der verkrampft im Stuhl sitzt, in der rechten Jackentasche das Schockotron, in der linken Jackentasche sein original Schweizer Offiziersmesser umklammert hält, als böten diese zwei Gegenstände ihm den einzigen oder letzten Halt in seinem nachgerade unendigbaren Leben, das auch schon etliche Erneuerungen erfahren hat. »Ein wotansüchtiger Knülch. Die ZIR ist kein Mädchenpensionat, Mann. Sie handeln sich neuerdings allerhand Minuspunkte ein.« Endlich schaut er Kürten wieder an, seine Augen sind wie von Erz. »Sie haben noch immer nicht diesen Haarmann liquidiert. Ich lese hier im Gutachten Dr. Raethers, daß Sie als geistig minderwertiger Psychopath eingestuft worden sind. Verspüren Sie eigentlich eine Neigung, mit derlei inferioren Charakteren zu fraternisieren?«
    Einen Moment lang muß Kürten überlegen, bis er die Frage begreift. »Ich will mich nicht unterstehen, das zu bejahen, Zentikrat.« Er ist unsicher. Irgendwie kann er sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß er die Unwahrheit sagt. Aber in einer Sache, an der er während der Zugfahrt eingehend geknobelt hat – sie betrifft eine jener schattenhaften Erinnerungen, wie sie in jüngster Zeit immer häufiger aus den Eispfühlen und Gletscherschluchten seiner Seele zum Vorschein kommen wie unversehens freigelegte, gräßlich anzuschauende Findlinge –, ist er sich inzwischen gänzlich sicher: Er hatte vorgehabt, den Leichnam der Maria Hahn so aufzuhängen, als hätte man sie gekreuzigt. Steht völlig im Einklang mit meiner Sühne und Vergeltungsidee, sinniert Kürten in unerwarteter Hochstimmung. Dann hätte jeder gesehen, was man von dem Strafvollzug hat: So grausam ist er, und das ist daraus geworden. In seinem Verstand werden Zusammenhänge und Querverbindungen wiederhergestellt – teils blitzartig, teils allmählich –, Ursachen und Wirkungen geklärt, als stricke das Netzwerk der Synapsen seine Maschen und Verknüpfungen neu. Es fällt Kürten schwer, dem Zentikraten Gehör zu schenken.
    »Sie fühlen sich zu

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