Willkommen in Wellville
und er sah, wie die kleine Rebecca Biehn in Tränen ausbrach, während sie mit einer Hand ihren bijiki- Riegelfesthielt und mit der anderen den Strumpf ausschüttete: Er war leer. Alle Strümpfe waren leer – keine Nüsse, keine Äpfel, keine Orangen. Nur das hijiki war übriggeblieben.
George. Der Name brannte wie Säure im Hirn des Doktors. Er stand da wie gelähmt, seine Züge hart, und die ganze Freude des Tages war weggeschwemmt wie Schmutz in den Rinnstein. Und er hatte sich auch noch Sorgen gemacht, hatte nicht schlafen können, weil er beunruhigt war wegen des Jungen draußen in der Nacht, in der Kälte, im Sturm, und die ganze Zeit über hatte sich George irgendwo im Haus versteckt wie eine aufgedunsene kleine Ratte. »Sucht ihn«, war alles, was er sagen konnte.
»Wen?« erwiderte Ella, und ihre Stimme fiel in einen Brunnen des Schweigens, das nur vom verbitterten Geschniefe Rebeccas und ihrer kleinen Brüder und Schwestern unterbrochen wurde. Auf das Gesicht seiner Frau war ein Ausdruck der Verwirrung getreten, der sich in wenigen Jahren für immer dort festsetzen sollte. »Wen suchen?«
Des Doktors erste Regung war es, den undankbaren Wicht augenblicklich aufzuspüren, die Dielenbretter herauszureißen, die Wände zu durchbrechen – alles, bis er ihn hatte, aber er fing sich. Die Kinder sollten ihr Weihnachten haben – sonst würde er dem Jungen in die Hände spielen. Er ließ aus dem San einen Vorrat an Nüssen, Orangen, Äpfeln und Kleiekeksen holen, überwachte das Öffnen der Geschenke und nahm sein Geschenk von den Kindern – einen Füllfederhalter mit eingraviertem Namenszug – würdig und gefaßt entgegen. Aber die ganze Zeit über sah er Georges zusammengekniffenes Gesicht vor sich, die schwarzen Löcher seiner scharfen, degenerierten Augen, den spöttischen Schwung seiner Lippen, und er beschloß, das Haus wenn nötig Stein für Stein auseinanderzunehmen, bis er ihn gefunden hätte.
Es war nicht nötig.
Cramden, der Stallbursche, wartete auf ihn, als er hinaus in den Schnee trat, um in die Kirche zu fahren. »Der Junge, nach dem Se alle suchn, Dr. Kellogg, Sir – der is im Rübenkeller, ganz hintn in der Ecke, hintern Kartoffeln und Steckrüben. Hab ihn dort selbst gesehn, vor zehn Minuten, als ich runter bin, um ein paar vertrocknete Äpfel für Bosco und Maisie zu holn – ich hoff, Se ham nix dagegen, aber ich mein, die armen Pferde solln auch ihrn Feiertag harn.«
Der Doktor antwortete nicht. Alles, was er sagte, war: »Halt den Schlitten«, und dann, gekleidet in seinen besten Anzug, mit Handschuhen und im Überzieher und in seinen polierten Lacklederstiefeln, marschierte er den schmalen Trampelpfad, den die Küchenhilfe getreten hatte, zum Rübenkeller, riß die halbhohe Tür auf und steckte den Kopf hinein. »George«, rief er. »George Kellogg – bist du da drin?«
Der Rübenkeller war eine vollgestopfte, enge und mit einem Plankendach versehene Höhle, die man im Erdreich ausgehoben hatte und die steil nach unten abfiel, eine Heimstätte für Spinnen, Mehlwürmer und Weberknechte. Es roch nach Erde und ihren trockenen, kalten Sekreten, und stets erinnerte der Keller Dr. Kellogg daran, daß er das nach oben wachsende Gemüse, das die gesunden Sonnenstrahlen absorbierte, den gichtigen, ungesunden Relikten vorzog, die hier in staubigen Häufen herumlagen. Als er sich aufrichtete, stieß er sich den Kopf am Türstock an, und sein Hut – nagelneu, aus Seide und gut fünfundzwanzig Zentimeter hoch – fiel vornüber in den Schmutz. »George!« brüllte er, zerrte den Hut aus dem Dreck und schlug ihn gegen seinen Oberschenkel. »Antworte mir!«
Vom Schnee geblendet, sah er zuerst nichts. Aber in der Ecke auf der anderen Seite rührte sich etwas, das Rascheln eines diebischen, stinkenden, kleinen menschlichen Nagetiers, das man in den Slums von Chicago hätte verhungern lassen sollen. Nach vorn gebeugt, drang der Doktor weiter vor. »George?«
Es dauerte einen Augenblick, aber dann hatten sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt, und er erkannte die schattenhaften Kartoffel-, Steckrüben-, Weiße-Rübenhäufen und die Karotten, die verschrumpelt waren wie die Finger von Toten. Dazwischen, mit kümmerlichen, zitternden Gliedmaßen, mit klappernden Zähnen und laufender Nase lag George auf einem Haufen Orangenschalen, Kerngehäusen von Äpfeln und Nußschalen. Er sah betäubt aus, verwirrt, als kauerte er noch immer neben der Leiche seiner Mutter in der trostlosen
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