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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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nackten Hütte. Seine kalten schwarzen Augen fixierten den Doktor, ohne das kleinste Anzeichen des Erkennens. Er hustete.
    »George«, sagte der Doktor fordernd, noch immer wütend, wütend auf die Tricks der Natur, auf sich selbst, auf dieses Häufchen Elend vor ihm, »George, komm jetzt raus und nimm deine Strafe in Empfang.«
    Der Junge regte sich nicht. Aber das vertraute gelbzähnige höhnische Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Vater«, sagte er. »Fröhliche Weihnachten.«

2.
DIE NIEDEREN BEGIERDEN
    Ein erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die für den abendlichen Vortrag im Großen Empfangssaal versammelte Menge. Die Palmen standen unerschütterlich in ihren irdenen Töpfen, hie und da kämpfte ein auf die Psyllium-Diät gesetzter Patient gegen den Drang, die Toilette aufzusuchen, und die von Milch aufgeschwemmten Tycoons waren plötzlich so hellwach wie ein Truthahn, der im staubigen Hof einen glitzernden Fleck erspäht. Dr. Kellogg hatte eben einen Donnerkeil geschleudert – ein Paar sitze unter ihnen, so verkündete er, Anfänger hinsichtlich der physiologischen Lebensweise, die sich entgegen seiner ausdrücklichen Anordnung ehelichen Beziehungen hingegeben hätten und von nun an die Konsequenzen würden tragen müssen –, und jetzt schwieg er, um diese erstaunliche Information wirken zu lassen. Dreihundert Augenpaare waren auf seine rundlichen weißen Chirurgenhände geheftet, als er sich aus dem Krug auf dem Pult ein Glas Wasser einschenkte. Dreihundert Augenpaare sahen zu, als er das Glas gegen das Licht hielt, als wollte er sagen: Seht her, hier ist alles, was das menschliche Tier braucht, um seine Gelüste zu befriedigen, aqua pura und eine Handvoll Wurzeln und Nüsse, und dreihundert Augenpaare verfolgten das Glas bis zu seinen Lippen und das delikate physiologische Auf und Ab seines Adamsapfel, als er es leerte.
    Wenn der Doktor bis zu diesem Augenblick uninspiriert gewesen war, so war es niemandem aufgefallen – und doch hatten sie alle auf diesen Augenblick gewartet. Der Vortrag war provozierend gewesen, anregend und informativ, das wohl, aber sie hatten die Einlagen vermißt, für die er berühmt war, und seiner Rede hatte ein gewisser Kitzel gemangelt, der aufregende Schauder, den zu erwarten sie gelernt hatten. Das heißt, bis jetzt.
    Er hatte vor fast einer Stunde begonnen, indem er ein halbes Dutzend Fragen beantwortete, die Patienten im Lauf der vergangenen Woche in den Fragekasten geworfen hatten, verbreitete sich über den Zusammenhang zwischen Hirnarbeit und Dyspepsie und das Kaltwasserbad als Mittel zur Abhärtung gegen die Kälte und nahm sich Zeit, um die traurige Tatsache zu beklagen, daß der amerikanische Fuß, ebenso wie der amerikanische Zahn und der amerikanische Mensch schlechthin, in einem Prozeß des Verfalls begriffen war. Und um diesen letzteren Punkt zu beweisen, führte er den philippinischen Fuß an, bei dem der große Zeh so viel länger war als alle anderen und so weit abgespreizt, daß er echte Greif- und Klammerdienste erweisen konnte – desgleichen der japanische Fuß. Nun, er hatte persönlich Japaner gekannt, die ohne Schuhe über ein ziegelgedecktes Dach mehrere Stockwerke über dem Erdboden laufen und mit den Füßen weben, schreiben und in einem Fall sogar Violine spielen konnten. Wie alle seine Zuhörer waren auch die hier Versammelten beflissene Parteigänger, sie lechzten danach, in die Geheimnisse von Gesundheit und jugendlicher Spannkraft eingeweiht zu werden, und sie hatten aufmerksam zugehört, aber der Doktor wußte, daß er nicht ganz in Höchstform war. Aber dann hatte er in der fünften Reihe die Lightbodys ausgemacht, und ihm ging das wahre Thema des Abends auf, und das alte Feuer in seinen Öfen begann, wieder aufzulodern.
    Es war Schwester Graves gewesen, die ihn von der Gelegenheit ’informiert hatte, bei der Mr. Lightbody seiner Wollust freien Lauf gelassen und sich über seine entkräftete, nahezu daniederliegende Frau hergemacht hatte – vor fast zwei Wochen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der Thanksgiving-Vogel plötzlich tot in seinem Käfig gelegen hatte. In der Zwischenzeit war er geschäftlich unterwegs gewesen in Sioux City, Minneapolis und St. Louis, hatte auf Versammlungen des Weizenvereins, Sektion West, des Nationalen Käse-Kongresses und der Amerikanischen Sojabohnen-Assoziation (deren Gründungsmitglied er war) gesprochen, und er hatte bislang noch keine Gelegenheit gefunden, sich mit den beiden

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