Willkommen in Wellville
vor!«
Aber George war nicht da. »Wo ist er?« donnerte der Doktor, außer sich vor Wut – das war ja wirklich ein gemütlicher Weihnachtsabend –, aber die anderen wußten es nicht. Sie hatten nicht bemerkt, daß er sich davongestohlen hatte. Ehrlich. Wirklich. Sie hatten’s nicht bemerkt.
Er wies sie an, die Arme zu senken, was sie mit einem Stöhnen der Erleichterung taten, und dann informierte er sie, daß er George in fünf Minuten vor sich stehen haben wolle. »Sucht ihn«, rief er. »Und dann werden wir Weihnachten feiern. Ich werde nicht zulassen, daß ein böser, ungezogener Drückeberger es uns ruiniert. Jetzt sucht ihn!«
Mit einem Schrei stoben die Kinder auseinander und stürmten wie ein Rudel wilder Hunde durchs Haus. Sie suchten in der Speisekammer, unter den Betten, in den hintersten Winkeln der Schränke und im Keller, sie sahen in Kommoden und Truhen nach, durchsuchten den Wagenschuppen, die Scheune und sogar, mit Erlaubnis des Patriarchen, des Doktors Privaträume. Kein George. Es war fünf Uhr nachmittags, es war dunkel, die Kinder wollten ihr Abendessen und ihre Weihnachtsfeier, die ganze Welt wartete auf die Ankunft des Erlösers, und George war nirgendwo zu finden. Widerwillig rief der Doktor den Polizeichef, Dab und ein halbes Dutzend seiner vertrauenswürdigsten Helfer an. Der Junge mußte draußen im Sturm sein, und obwohl ihm eine Stimme zuflüsterte, ihn laufenzulassen, konnte er es nicht – es hätte einen Skandal gegeben, er hätte wie ein Dummkopf dagestanden. Er wies Bill Farrington und die anderen an, eine Suchaktion zu starten, aber kein Aufsehen dabei zu erregen. Der Junge hatte seine Jacke nicht dabei, und er könnte bis zum Morgen erfrieren.
Der Abend brach herein. Vor dem Kaminfeuer wurde gesungen, die Kinder bekamen Kleiekekse und alkoholfreien Punsch. Der Doktor saß am Klavier und spielte für die älteren Kinder sein ganzes Repertoire an Weihnachtsliedern, und Ella und Clara sangen im Duett ein paar von Schumanns Vertonungen von Heine- und Eichendorffgedichten. Die Stimmung war gut, die Kleinen gingen mit schwirrendem Kopf zu Bett, draußen vor den Fenstern türmte sich der Schnee auf – und dennoch, jeder sah George vor sich, unterentwickelt, klapperdürr, mit zu großem Kopf und wütend, allein mit den Elementen. Um elf Uhr rief Chief Farrington an, um mitzuteilen, daß sie keine Spur von ihm entdeckt hätten und die Suche abblasen würden. Um Mitternacht ging Dr. Kellogg müde und mit verkrampftem Magen ins Bett -verdammt sollte der Junge sein.
Am Morgen, nachdem er beim Frühstück mit seiner Frau und seiner Schwester und deren Mann Geschenke ausgetauscht hatte, schlenderten der Doktor und seine Verwandtschaft durchs Haus zum Flügel der Kinder, um mitzuerleben, wie sie ihre Strümpfe ausleerten und ihre Geschenke auspackten. Zuvor hatte ihm Chief Farrington eine Nachricht zukommen lassen – keine Spur von George; könnte der Doktor ein Kleidungsstück von George für Michael Doyles Bluthunde zur Verfügung stellen? –, aber der Doktor hatte sie in einer Schublade ganz weit hinten in seinem Kopf abgelegt, entschlossen, sich durch nichts den Feiertag und seine Freude an den Kindern verderben zu lassen. Alles in allem fühlte er sich heiter – sogar gutgelaunt –, als er das Kinderzimmer betrat, mit seinem funkelnden Baum und dem mit Strümpfen geschmückten Kaminsims.
Angezogen für die Kirche, mit vor Vorfreude auf die Geschenke und kleinen Belohnungen strahlenden Gesichtern, waren die Kinder wirklich ein wohltuender Anblick. Der Doktor begrüßte sie einzeln, wünschte ihnen fröhliche Weihnachten und gestattete ihnen dann, ihre Strümpfe zu holen. Gemeinsam gingen sie zum Kamin, geordnet, still – sie vergaßen nie, Haltung zu bewahren, respektierten stets des Doktors Wunsch nach Frieden und Ruhe –, und mit gedämpften Freudenlauten holten sie ihre Strümpfe herunter. Der Doktor lächelte. Ella lächelte. Hannah Martin, Clara und ihr Mann Hiland lächelten. Es war ein ganz besonderer Augenblick, durchdrungen von einem Gefühl, das so greifbar und warm war wie eine Wärmflasche zwischen den Laken in einer eiskalten Nacht. Aber seltsamerweise verstummte das leise, freudige Geschnatter, als die Kinder ihre Strümpfe untersuchten – es hob ein ungläubiges Gemurmel an, und die Gesichter der jüngeren wie der älteren Kinder wurden lang.
Was war los? Der Doktor ging verwundert ein paar Schritte nach vorn, neunzehn blasse Gesichter waren ihm zugewandt,
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